Die Wohnungstür war bereits offen, als ich oben ankam, und Lucie lächelte mich an.

Gott, wie ich ihr Lächeln liebte.

„Besuch um sechs Uhr morgens? Ich dachte, du schläfst gerne aus."

„Ja, ich...ja, tu ich. Eigentlich. Ähm. Hab' ich dich geweckt? Tut mir leid."

„Nein, alles gut. Du hast Glück, dass Jacksons Anruf mich schon vor einer Stunde aus dem Bett gejagt hat", sagte sie und rieb sich die immer noch müde aussehenden Augen.

„Jackson ist dein Bruder, nicht?"

„Mhm", machte sie zustimmend. „Er sagt, Oreo treibt ihn in den Wahnsinn. Ich musste ihn ja weggeben, wegen meines Vermieters." Sie schmunzelte. „Oh, Oreo ist mein Kater! Das...hast du dir sicher schon gedacht."

„Komm' rein. Tee?" Sie ging in Richtung Küche, ich folgte ihr. Ein Gefühl von innerer Wärme begrüßte mich.

„Nein, danke. Ist nicht nötig."

Sie setzte trotzdem Wasser auf. Ich sah von der Küche aus ins Wohnzimmer und ließ den Blick wandern. Jedes neue Detail, das ich entdeckte, brachte mich zum Lächeln. Die Matrjoschka in ihrem Bücherregal, die Pinnwand voll von Konzerttickets, das Porträt von Lucie als Kind. Auch damals hatte sie schon Stirnfransen getragen. Und eine Brille.

Ich warf einen Blick zu ihr. „Du trägst eine Brille?", fragte ich. Mir kam einfach nichts Besseres in den Sinn.

„Nur, wenn ich meine Kontaktlinsen wieder verlege. Was ziemlich oft ist." Sie grinste schief und nickte zu ihrem knallroten Sofa. „Fühl' dich ganz wie Zuhause."

Ich ließ mich nieder und starrte auf meine Knie. Ob sie mich auslachen würde? Ob das letztens nur- war das für sie echt gewesen?

„Geht es Marc gut?", fragte sie. Ich hörte, wie sie Tassen aus einem Schrank holte.

„Ja, darüber wollte ich mit dir..."

„Lu? Ist wer da?", ertönte eine verschlafene Stimme, woraufhin ich mich umdrehte.

„Betty ehrt uns heute", sagte sie, und obwohl ich sie gar nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie schmunzelte.

„Betty...?"

Ich drehte mich um. Sie sah irgendwie bekannt aus, aber ich wusste nicht, woher. Innerlich verdammte ich mich dafür, mir Gesichter niemals merken zu können.

„Ah. Ihr wart mal zusammen im Café, nicht? Ich bin Tara, vielleicht erinnerst du dich." Ohne Namensschild sah sie anders aus. Aber so langsam fiel mir auf, dass ich ihre Stupsnase schon einmal gesehen hatte.

„Vage", sagte ich leise und räusperte mich. „Ihr, uhm, du...nett, dich mal wiederzusehen."

„Ebenfalls." Lu stand jetzt neben ihr und reichte ihr eine Tasse Tee.

Ich dachte, das wäre meine.

Du wolltest nicht mal Tee, beschwer' dich nicht.

„Ich leg' mich nochmal hin. Kann ja nicht jeder so'n Morgenmensch sein wie ihr beide." Sie lachte leise und küsste Lucie auf die Wange.

„Gib' Jackson die Schuld", sagte diese mit einem Grinsen im Gesicht.

„Jaja." Tara sah wieder zu mir. „Vielleicht bist du ja noch da, wenn ich wieder aufwache. Ansonsten...war schön, dass du vorbeigekommen bist."

Ich schaffte es irgendwie, zu lächeln, dabei war mir danach absolut nicht zumute.

Atmen.

Lucie setzte sich neben mich und stellte zwei Tassen auf dem kleinen Holztisch ab. Beide schienen einmal einen Aufdruck gehabt zu haben, doch er war kaum noch ersichtlich. Erbstücke vielleicht.

„Und Tara ist...", suchte ich nach den richtigen Worten. „Ist sie öfter hier?", fragte ich schließlich.

„Ich war letzte Woche im Café und sie hat nach meiner Nummer gefragt und ich dachte mir, verlieren kann ich ja nichts." Sie hielt inne. „Das war okay, oder? Ich meine...wir haben uns irgendwie geeinigt, dass wir erstmal- dass wir erstmal nichts...machen. Richtig?"

„Natürlich war das okay. Wir sollten...ja, wir sollten erstmal nichts tun. Ich hab' Marc und Michael und du hast Tara. Das ist toll. Ich freue mich für dich." Ich wollte weinen. Oh ja, du freust dich natürlich so sehr. Sieht man dir sicher an. „Für euch", verbesserte ich mich.

Ich nahm einen Schluck von meinem Tee, um die Stille irgendwie zu überdrücken. Von draußen erklang Verkehrslärm, was ein bisschen half.

„Du magst Hagebutte, soweit ich mich erinnern konnte. Aber wenn nicht, bring' ich dir was anderes, kein Problem. Kaffee? Wir haben aber leider nur Koffeinhaltigen."

„Hagebutte ist gut." Ich starrte auf den altmodischen Teppich unter meinen Füßen. „Außerdem soll ich nicht so viel Kaffee trinken", fügte ich hinzu. Heute hatte anders werden sollen. Heute hatte sich alles ändern sollen.

Aber dann war Tara da und jetzt saßen wir hier und führten unangenehmen Smalltalk über Kaffee. Wir ignorierten, wie komisch es sich zwischen uns anfühlte.

„Betty, ich..."

„Hm?"

„Ich wollte nur fragen, ob du mehr Zucker willst. Willst du mehr Zucker?"

„Schon okay", lehnte ich ab.

Sie nickte und fuhr mit den blassen Fingern über ihre blaue Tasse. „Also. Bist du aus 'nem bestimmten Grund hier?", stellte sie jetzt die Frage, die ich so gerne vermeiden hatte wollen.

Ich schluckte die Worte hinunter, die ich ihr eigentlich so gerne sagen wollte. Sie sah glücklich mit Tara aus, und Tara sah glücklich mit ihr aus. Es stand mir nicht zu, das einfach kaputt zu machen. „Nein. Ich wollte dich einfach sehen, ein bisschen plaudern", tat ich es ab.

„Ich freue mich auf jeden Fall."

„Ich mich auch." Ich warf einen Blick auf die zartgelbe Wanduhr. „Ich...glaube, ich muss dann auch wieder, ich hab' mich ein bisschen in der Zeit verschätzt."

„Oh. Okay."

„Ja. Okay." Ich stand auf und versuchte, sie nicht anzusehen. Das würde es nur schlimmer machen.

„Dann...geh' ich mal", murmelte ich.

„Man sieht sich."

„Hoffentlich bald."

„Sollte sich einrichten lassen."

„Das ist schön", sagte Lucie. „Wir holen das Teetrinken nach, ja? Dann hab' ich auch Scones oder so, die ich dir anbieten kann."

„Das klingt schön", sagte ich mit einem leichten Nicken. „Bis dann."

Sie winkte mir, während ich zur Tür ging, sie öffnete und hinter mir zufielen ließ. Meine Haut brannte, mein Herz noch mehr.

Heute hatte anders sein sollen.

Ich ging die Treppen hinunter, wie in Trance. Stieg in den Bus ein, als er kam, aber es fühlte sich unecht an. Ich stieg aus, ging hoch zu unserer Wohnung, war erleichtert über meine Vergesslichkeit. Ich hatte nicht abgeschlossen, als ich gegangen war.

Meine Tasche sank auf den Boden, ich ging so leise wie möglich zum Schlafzimmer, stumm betend.

Bitte schlaf' noch.

Die Tür war immer noch leicht offen, ich warf durch den Spalt einen Blick hinein. Wenigstens ein Triumph war mir vergönnt. Ich ging weiter ins Bad und starrte in den Spiegel. Hatte ich den ganzen Morgen schon so schrecklich ausgesehen?

Ich seufzte leise, wusch mir das Gesicht und zog mich um, bevor ich in der Küche Frühstück machte. An den Wochenenden erwartete Marc Waffeln, oder Eier, oder was wusste ich.

Und ich war eine gute Frau. Ich machte ihm Waffeln oder Eier, wenn er sie wollte. Ich stellte ihm ein Glas Orangensaft hin, wenn er danach fragte.

Ich schrieb Liebesbriefe an jemanden anderen, wie eine gute Frau.

Definiere LiebeWhere stories live. Discover now