POSTKARTE 11: Korallenriff

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»Haha.« Yule findet meinen Scherz offenbar nicht halb so witzig wie ich, denn im Gegensatz zu mir lacht er nicht, verdreht stattdessen nur die Augen.

Die Augen, unter denen schwarze Schatten liegen, weil er zu spät eingeschlafen und zu früh aufgewacht ist. Ich werde das Gefühl nicht los, dass beides meine Schuld ist. Irgendwie.

»Warum bist du schon wach?«, wiederholt er seine Frage. Ungeduldig.

»Den Sonnenaufgang kann ich von hier zwar nicht sehen, aber immerhin kann ich die Morgenluft einatmen. Die Gedanken sortieren.«

Ich schliesse die Augen, spüre die frische Brise auf der Haut, atme das Salz ein und denke, wie schön es ist, den Tag mit Meergedanken zu beginnen.

»Welche Gedanken?«, fragt Yule spöttisch.

Ich ignoriere ihn nun meinerseits. Spreche weiter, als hätte ich ihn nicht gehört. »Den anbrechenden Tag geniessen. Und die Stille.«

Stille hat einen schönen Klang, wenn man sich genug Mühe gibt, hinzuhören.

»Die Stille?«

Bist du ein Papagei, Yule?, möchte ich fragen. Aber ich bleibe still, denn Yule spricht sofort weiter.

»Weisst du überhaupt, was das ist? Es wundert mich, dass du dir selbst nicht ständig ins Wort fällst.«

Ich muss ein Grinsen unterdrücken, weil der Wortwechsel mit Yule einen ebenso schönen Klang hat wie die Stille, der ich gelauscht habe. Vielleicht ist mir der Klang sogar noch ein bisschen lieber. Aber das muss Yule nicht unbedingt wissen.

»Das heisst, ich habe sie geniessen können.«

Ich verschränke die Arme, um die Aufmerksamkeit von meinen zuckenden Mundwinkeln abzulenken.

»Oh, tut mir leid.« Yules Mundwinkel schliessen sich den meinen an und beginnen nun ebenfalls zu zucken. Und ich höre auf, es zu unterdrücken. »Störe ich?«

»Schon ein bisschen, ja.«

»Ausgezeichnet. Dann weisst du ja jetzt, wie es ist, mit dir zusammen Zeit zu verbringen.«

»Bin ich tatsächlich so schlimm?« Ich drehe mich so in meinem Stuhl, dass ich meinen Oberkörper jetzt ganz Yule zugewandt habe. Die Beine lasse ich über die Armlehne des Stuhls baumeln.

»Schlimmer.«

»Sehr gut.« Ich nicke zufrieden.

Yule schnaubt.

»Das wäre doch jetzt der ideale Zeitpunkt, um hier auf dem Balkon zu frühstücken, oder?«, sagt er schliesslich und sein Blick wandert über den kleinen Tisch, an dem ich vorher mein Knie angeschlagen habe, die Stühle, auf denen wir sitzen, und das Meer, das sich vor uns erstreckt.

»Hör mir bloss auf. Ich esse keinen einzigen Bissen mehr von diesem Toast.«

Die Tatsache, dass ich langsam Hunger bekomme, muss ich wohl einfach ausblenden. Ich muss jetzt stark sein, denn ich werde auf keinen Fall noch einmal von diesem Toast essen. Sonst hat Yule schon wieder gewonnen. Und dieses selbstgefällige Grinsen erträgt mein Stolz auf keinen Fall ein drittes Mal.

»Wenn du meinst.« Yule zuckt mit den Schultern. »Kaffee?«

»Decaf.«

»Aber natürlich.«

🌲

»Du kannst ja richtig lieb sein, was?«, sage ich, als ich wenig später den warmen Becher von Yule entgegennehme. »Danke.«

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