07 - Wiederholen

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In Yoongis Kopf ist es immer laut. Das ist schon so, so lange er denken kann. An besonders schlimmen Tagen besteht seine Gedankenwelt aus einem Schlachtfeld, in dem sich gegnerische Parteien gegenseitig vernichten wollen, obwohl sie eigentlich eine Einheit darstellen sollten. Dann herrscht ein Krieg in seinem Kopf, dem er weder entkommen noch gewinnen kann. An guten Tagen verwandelt sich das Chaos in etwas Sanfteres, in einen Freizeitpark, in dem sich die verschiedenen Stimmen zwar nicht bekämpfen, aber sicherlich in ihrer Lautstärke jederzeit übertönen möchten. Beide Varianten kann Yoongi nicht ignorieren oder abschalten, aber er kann sie eindämmen. Über die Jahre hinweg hat sich eine Strategie als besonders effektiv erwiesen – das Tauchen. Das Wasser gebietet jeglichen Geräuschen Einhalt, auch denen, die sich nur in seinem Kopf abspielen. Vielleicht liegt es daran, dass Yoongi unter Wasser nicht mehr mit seinen Gedanken hört, sondern mit seinem Herzen. Und das pocht schon immer regelmäßig, beruhigend und so, so gutmütig in seiner Brust, dass es den Gegenpol zu einer Gedankenwelt bildet, die von Chaos regiert wird. Nicht abgeschottet von dem, was da oben so passiert, aber eben auch nicht davon bestimmt.

Eine zweite, durchaus noch effektivere, Strategie ist erst vor kurzem in Yoongis Leben getreten – in Form eines schwarzhaarigen Jungen mit vollen, plumpen Lippen und einer honigweichen Stimme. Park Jimin bringt Sonnenschein an dunklen Tagen und beendet die Gedankenkriege mit einer friedvollen Determination, der sich keine Partei lange verwehren kann. Mit Jimin an seiner Seite befindet sich Min Yoongi pausenlos unter Wasser, weil es ab dem Moment nicht mehr so wichtig erschien, was seine Gedanken zu sagen haben, als sein Herz angefangen hat zu sprechen.

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Sonntag, 22:08 Uhr

Obwohl diesmal nicht ganz so viele Menschen stehengeblieben sind, um sich Jimins Auftritt anzusehen, dauert es trotzdem ein paar Minuten, bis sich auch die letzten Gestalten endgültig verzogen haben und nur noch Yoongi und der Straßenmusiker übrig geblieben sind. Es ist zwischenzeitlich fast vollständig Nacht geworden und nur ein schmaler, roter Streifen am Horizont erinnert an das kürzlich stattgefundene Naturspektakel, das in all seinen atemberaubenden Farben doch nicht an die Faszination heranreicht, die der minthaarige Junge für den Sänger empfindet.
Jimin greift umsichtig nach seiner Gitarre und dem schwarzen Rucksack, an dessen Seite die Wellenaufkleber immer noch beständig versuchen sich zu lösen. Mit beiden Gegenständen ausgerüstet, bleibt er zögerlich vor Yoongi stehen, bevor er sich mit einem leisen Seufzen schweigend neben ihm auf der Steinmauer niederlässt.

Es ziehen einige Minuten und Passanten an ihnen vorbei, bevor Yoongi letztendlich das erste Wort und den tausendsten Gedankengang zwischen ihnen ergreift: „Woher wusstest du es?", fragt er zögerlich.

Jimin schaut ein wenig schuldbewusst drein, bevor er gesteht: „Jungkook hat mir geschrieben, dass du denkst, dass du nicht gut genug für mich bist. Ich hab mich vorher vielleicht ein bisschen bei ihm ausgeweint, dass du mir nicht geantwortet hast. Und er meinte, dass ich mich beruhigen soll, weil du ihm auch nicht geantwortet hast und bestimmt an der Arbeit bist, aber das hat mich überhaupt nicht beruhigt, weil ich gar nicht wusste, dass ihr überhaupt auch schreibt. Dann hab ich überlegt, ob ich im Aquarium vorbeikommen soll, um zu gucken, ob du wirklich arbeiten bist und deswegen nicht schreibst, aber ich wollte auch nicht so aufdringlich sein und joa. Schlussendlich hat Jungkook mir dann gesagt, dass irgendwas nicht in Ordnung ist und du zum Starbucks kommst. Als ich auf dem Weg hier hin war, hat er mir dann erklärt, dass heute wohl jemand ziemlich gemein zu dir war und du jetzt deswegen an dir selbst zweifelst und, wie bereits gesagt, denkst, dass du nicht gut genug für mich bist. Was natürlich vollkommener Bullshit ist, denn wie zur Hölle könntest du nicht gut genug für mich sein? Ich mein, hallo? Du hörst mir immer zu, ganz egal, wie viel ich rede, ohne die Augen zu verdrehen oder mich zu unterbrechen. Du hast die hübschesten Haare, die mir je begegnet sind, das süßeste Grinsen und du magst Fische. Ich kann darüber stundenlang mit dir reden, ohne dass du mich für den langweiligsten Typen hältst, der auf dieser Erde wandelt. Benutz ich zu viele Superlative? Möglich. Sind sie bei dir absolut angemessen? Auf jeden Fall. Und von den hunderten Gründen, die ich nennen könnte, warum du nicht nicht gut genug für mich bist, möchte ich wenigstens noch erwähnen, dass du nicht mal vor Taehyung geflüchtet und mit uns ausgegangen bist, obwohl du nicht mal überzeugt von der Idee warst."

Jimin holt tief Luft, bevor zu seinem abschließenden Fazit ansetzt. Seine Augen sind dabei treu auf Yoongi gerichtet und blicken ihm direkt ins Innere: „Ich mag dich einfach, okay? Genauso wie du bist, eben weil du so bist."

In Yoongis Kopf kämpfen zwei Parteien um die Vorherrschaft. Die eine schreit und jubelt Du bist eine Schande und die andere sagt mit honigweicher Stimme Ich mag dich einfach, okay? Es ist keine zerschmetternde Schlacht wie sonst. Die Kontrahenten kämpfen nicht ohne Rücksicht auf Verluste um die Vorherrschaft miteinander. Jimin könnte nicht mal als Stimme in seinen Gedanken keine Rücksicht auf Yoongi nehmen. Die honigweiche Stimme in seinem Kopf bezirzt den destruktiven Gegner so lange ganz behutsam, bis seine Beine weich werden und er in die Knie gehen muss. Yoongis Beine sind genauso weich, butterweich, er ist froh, dass er gerade sitzen kann.
„Darf ich dich küssen?", fragt Jimin, als er nach einigen Minuten immer noch keine Reaktion von dem mintgrünen Jungen erhalten hat. Auf seinen Wangen liegt ein rosa Schimmer, doch seine Stimme ist felsenfest.

Yoongi nickt ohne sein Zutun.
Und da sind Menschen um sie herum und die funkelnden Sterne am Himmel und der leichte Geruch nach Honig und irgendwo gibt es gebrochene Herzen und Ungerechtigkeiten und Grausamkeit und Störungen und Fehlverhalten und Fehler, so viele Fehler, aber in diesem Moment zählt nur eins:
Blaurote Lippen auf seinen.

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Und natürlich werden sie komisch angeguckt, als sie händchenhaltend die Straße entlang spazieren. Den Weg vom Sea Life zur Starbucks, den sie mittlerweile schon tausende Male gemeinsam entlang gegangen sind. Aber die Blicke waren nie leichter zu ertragen, wie in den Momenten, wo Park Jimin seine Hand hält und ihn angrinst. Mit leuchtenden Augen und einem hervorblitzenden Schneidezahn, der sich in volle Lippen gräbt.

Yoongi hat sich bereits eine Kamera gekauft. Vielleicht wird er es sich bald trauen zu fragen, ob er ihn fotografieren darf.

ENDE

Unter Wasser hören wir einander mit dem HerzenWhere stories live. Discover now