Generalprobe

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Am nächsten Morgen graste ich friedlich vor mich hin, als ich Schritte auf dem Feldweg hörte und ich hob den Kopf. Es war Mika. Aber was war das? Sie trug ein schweres Lederteil auf den Armen. Das sah mir aus wie ein ... Sattel!

Verwundert sah ich zu, wie sie mit dem Lederteil zu mir kam. Sie trug einen Reithelm auf dem Kopf. "Hey Ostwind!" begrüßte sie mich erfreut. Ich spitzte neugierig die Ohren. Sie trat zu mir und wollte mir anscheinend den Sattel auf den Rücken legen. Im gleichen Augenblick wich ich zurück. Ich mochte dieses Ding nicht. Und jetzt erblickte ich auch noch eine Trense in Mikas Hand.

"Schhh, es ist alles gut" beruhigte sie mich und schließlich ließ ich es zu, dass sie den Sattel auf meinen Rücken hob und den Gurt festschnallte. Anschließend zog sie mir die Trense über die Ohren und ich schüttelte unwillig den Kopf, als ich das kalte Gebiss im Maul spürte.

"Ich weiß, es ist unangenehm, aber beim Turnier musst du das tragen. Ich würde es dir gerne ersparen, glaub mir. Aber heute müssen wir Oma beweisen, dass sie sich in dir geirrt hat."

Überrascht hob ich den Kopf. Sie wollte also doch mit mir an dem Turnier teilnehmen! Dann war heute also die Generalprobe. Morgen waren schon die Classics! Geduldig wartete ich, bis meine Seelenverwandte im Sattel saß und ging dann los. Sie lenkte mich auf den Feldweg, der zum Gestüt führte und mit jedem Schritt wuchs meine Aufregung. Nun würde sich zeigen, ob sich das harte Training gelohnt hatte.

Mika spürte anscheinend meine Nervosität, denn sie klopfte mir besänftigend auf den Hals und ich wurde ruhiger.

Nach ein paar Minuten hatten wir das Tor erreicht. Niemand war zu sehen und meine Freundin lenkte mich zu einer großen Halle. Sam hantierte dort gerade an der Tür und als er uns sah, begann er zu grinsen. Er rief etwas in die Halle und schob die Hallentür auf, als ich an ihm vorbei trottete.

In der Halle saßen eine Gruppe Reitschüler auf ihren Pferden, vor ihnen Maria Kaltenbach und neben ihr ein Mädchen, das auf einem grauen Wallach thronte. Dieser sah jedoch alles andere als glücklich aus und ich warf ihm einen aufmunternden Blick zu. In der Halle waren Hindernisse aufgebaut.

Mit einem Schlag verstummten alle Gespräche und alle starrten Mika und mich an, als hätten sie einen Geist gesehen. Ich sah Frau Kaltenbachs fassungslosen Gesichtsausdruck und blieb vor ihr stehen. Die alte Dame wich sofort vor mir zurück. Offenbar sah sie noch immer das Monster in mir. Aber ich war nicht mehr der, für den sie mich hielt. Und das würde sie heute hoffentlich erkennen.

"Was soll das werden?" fragte sie streng und sah Mika entsetzt an. Sam trat nun neben mich und sah Maria bittend an "Samuel?!?" stammelte die Gestütsbesitzerin fassungslos. "Frau Kaltenbach, ich kann ihnen das jetzt nicht erklären. Sie müssen sich das einfach nur ansehen. Bitte" meinte Sam.

Nach kurzer Stille sah Mikas Großmutter meine Reiterin und mich prüfend an. Anscheinend überlegte sie. Schließlich meinte sie ausdruckslos "Na dann los." Sam sah Mika ermutigend an und sagte "Zeigt's ihnen!"

Nun wendete mich Mika und ich marschierte zum Startpunkt. Ich wusste, dass die nächsten Minuten über mein Schicksal bestimmen würden. Aber ich war bereit. Meine Seelenverwandte beugte sich zu mir "Ich geh vor" murmelte sie und ich schnaubte verstehend. Sie richtete sich auf und von selbst galoppierte ich an.

Ich war voll bei der Sache und spürte, dass Mika sich genauso konzentrierte wie ich. Die ersten Hindernisse kamen in Sicht und ich überwand sie mühelos. In dem Moment fühlte ich meine Anspannung von mir abfallen und ich hatte nur noch pure Freude in mir. Mika ging das scheinbar genauso, denn sie hatte ein breites Lächeln auf dem Gesicht. Wir flogen durch den Parcour, überwanden die höchsten Hindernisse und machten nirgends einen Fehler.
Schon lenkte mich meine Freundin auf das letzte Hindernis zu, ich beschleunigte, sprang ab ... und landete federleicht auf der anderen Seite.

Nun ertönte lauter Jubel, Mika parierte mich durch und klopfte mir glücklich den Hals. Wir hatten es geschafft. Die Kinder rannten zu uns. Jeder wollte mich anfassen und ich ließ es belustigt geschehen. Nun machten die Kleinen eine Gasse und meine Freundin ritt auf mir zu ihrer Großmutter. Ich blickte sie nervös an. Maria beachtete mich gar nicht und sah nur Mika an. "Das hast du sehr gut gemacht ... für den Anfang" meinte sie schließlich.

Ich hörte meine Reiterin erleichtert aufatmen "Das war er!" rief sie und umarmte meinen Hals. Glücklich schnaubte ich "Wir haben es gemeinsam gemeistert!". Auch in dem Moment des Triumphs dachte meine Seelenverwandte an mich. Das war wahre Freundschaft.

Michelle, das Mädchen auf dem Wallach, ritt nach einem kurzen Gespräch mit Frau Kaltenbach aus der Halle, ohne uns zu beachten. "Das wird ein Spaziergang morgen!" rief Sam enthusiastisch, doch der strenge Blick seiner Chefin brachte ihn zum Schweigen. "Ich denke, dass ihr mir vorher noch einiges zu erklären habt." sagte sie und wandte sich zum Gehen. "Auch wenn ich glaube dass sich unsere Chance auf morgen mehr als nur verdoppelt hat" ergänzte sie schließlich, was mit Jubel der Kinder quittiert wurde.

Ich konnte es nicht fassen! Wir hatten es geschafft! Die alte Dame hatte eingesehen, dass sie sich in mir geirrt hatte! Erleichtert rutschte Mika aus dem Sattel, gab Sam ein Highfive und führte mich dann aus der Halle.
Ich fühlte mich, als schwebe ich über den Boden. Nichts würde Mika und mich jetzt noch trennen können.

Aber was tat sie jetzt? Sie führte mich zum Stall hinüber! Sie sah meinen erschrockenen Blick und sagte schnell "Alles ist gut, Ostwind. Die Nacht solltest du heute im Stall verbringen, damit ich dich morgen gleich fertig machen kann. Nach dem Turnier geht's wieder auf die Koppel, das verspreche ich dir."

Na gut, wenns nur für eine Nacht war... Ich folgte meiner Freundin zu der Gitterbox, wo sie mir den Sattel und die Trense abnahm. Erleichtert schüttelte ich mich und scharrte mit den Hufen. Meine Seelenverwandte lehnte sich an mich "Danke." flüsterte sie und ich stupste sie mit einem "Gern geschehen" an. Eigentlich musste ich ihr danken. Immerhin hatte ich es ihr zu verdanken, dass ich hier bleiben konnte.

Mika blieb noch eine Weile bei mir, dann verabschiedete sie sich und verließ den Stall. Ich ging zu meinem Heunetz und begann zu fressen. Was für ein Tag! Jeder hatte heute begriffen, dass ich nicht gefährlich war und morgen würde ich mit meiner Seelenverwandten das Turnier bestreiten. Und danach ging es endlich zurück auf meine Koppel! An diese Gitterbox hier werde ich mich ganz sicher niemals gewöhnen.

Ostwinds Sicht - Band 1Nơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ