Tag 3: Demokratie und Anarchie

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Jonas und ich sitzen am Abend des Abschlussballs an einem Tisch und genießen das köstliche Essen. "Zauberhaft!", sagt er mit vollem Mund und grinst mir wundervoll entgegen. Die Musik ändert sich. Luna hat "Perfect" von Ed Sheeran aufgelegt: "So, ihr könnt jetzt fünf Minuten eure Schnulze abhalten.", sagt sie lustlos wie immer. Alle sind da. Alle lächeln und sind fröhlich. Meine Lehrer, Freunde und Mitschüler, meine Familie. Ich tanze mit Jonas auf der Tanzfläche und merke erneut, wie wundervoll diese Momente mit ihm sind.

Eine Sirene ertönt und unterbricht diese fast traumhafte Stimmung. "Ziehen Sie Ihre Rettungswesten an! Das ist keine Übung!", spricht jemand alarmierend durch die Lautsprecher. Ich schaue mich um, doch nur schreiende und rennende Mitschüler sind um mich herum. Verzweifelt suche ich die Menge nach Jonas ab. Dann sehe ich ihn am Ende des Saals, will zu ihm rennen und bleibe kurz nachdenkend stehen. Es kommt mir vor wie ein Déjà-vu. Wie in Trance blicke ich links zu den Fenstern, die auf einmal wie Bullaugen aussehn. Eine gigantische Welle rast auf uns zu. Ich sehe wieder zu Jonas, der mit seinem Rücken zu mir steht, und will zu ihm rennen. Ich könnte es schaffen. Ich habe es geschafft und sage: "Jonas, dieses Mal werde ich dich nicht verlieren!". Ich fasse an seine Schulter und drehe ihn zu mir. Erschrocken trete ich drei Meter zurück und stolpere fast über die Leichen meiner Mitschüler am Boden. Jonas ist ganz bleich, blau und grün. Meerestiere zerfressen sein Gesicht, seine Arme und Beine. Seine Augen schauen unkontrolliert in unterschiedliche Richtungen. Dann öffnet er seinen zahnlosen Mund und spricht: "Du hast mich ertrinken lassen... Jetzt sollst du brennen!". Und ehe ich reagieren kann, stehe ich in einer Hölle aus Lava und Feuer. Meine Füße beginnen zu brennen und bald erfassen die Flammen meinen ganzen Körper. Grausame Todesschreie von toten und brennenden Seelen erhallen.

In der Lunge brennende Luft und nicht auszuhaltende Hitze wecken mich am dritten Tag auf der einsamen Insel. Verzweifelte Schreie lassen mich aufspringen. Ich verlasse das Zelt und sehe Rauchwolken am Himmel. Schnell renne ich von meinem Dorf auf den großen zentralen Platz. Unser Lager brennt und einige meiner Mitschüler versuchen bereits, das Feuer zu löschen. Ich packe mit an und gemeinsam löschen wir es.

Still sitzen wir zur Mittagssonne auf dem großen Platz. Das endlose Schweigen bricht schließlich ein sonst immer stiller unscheinbarer Junge, dessen Stimme wahrscheinlich nicht einmal seine Mutter kennt. Linus. "Gib es zu! Du hast das Ganze nicht unter Kontrolle! Wir wollen nur hier weg. Niemand will hier bleiben. Ich gehe meinen Weg! Wer auch zurückfinden möchte, folgt mir!", ruft er aggressiv in die Menge. "Das Abrennen unseres Lagers und unsere Vorräte ist doch ein Anschlag auf uns alle!", spreche ich verzweifelt zum ihm und allen, die ihm folgen wollen. "Ich werde alles tun, damit das aufgeklärt wird! Hier kommt niemand zu schaden! Ich will hier auch nicht bleiben! Bis wir aber gerettet werden, sollten wir Pläne ausarbeiten und dafür sorgen, dass wir hier gemeinsam in Einheit, Frieden und Sicherheit überleben, bis es zu unserer Rettung kommt. Eure Sicherheit und die Rettung von dieser Insel ist mein oberstes Ziel! Und eures, wenn ihr euch dafür entscheidet, dass ich und ein mutiges Team für euch arbeiten...", versuche ich, die Überreste unserer "neuen Gesellschaft" zusammen zu halten. "Gemeinsam in Einheit"... ein Satz den ich noch oft benutzen werde. "In drei Tagen wählen wir unseren Rat. Heute Abend gebe ich den Ablauf der Wahl bekannt. Ich benötige aber zunächst Leute, die mir helfen, dieser Straftat auf den Grund zu gehen. So etwas darf nicht einfach an uns vorbeigehen!", fahre ich fort. Linus und 12 weitere verlassen das Dorf.

Max meldet sich schnell bei mir: "Du kannst auf mich zählen!". Auch Kira und Lena wollen mir helfen! "Luna und ich...", teilt mir Julia leicht besorgt mit "...wir sorgen dafür, dass wir schnell an neue Nahrung kommen und alles zusammentragen, was uns noch geblieben ist.". Als alle an die Arbeit gehen, bleibe ich kurz mit Lena stehen. "Geht schon vor! Wir kommen gleich nach.", bitte ich. "Gut! Bis gleich!", sagt Kira. Lena schaut mich an und sieht mir meine Besorgnis an: "Hey, Liam. Wir finden heraus, wer das war... Viele vertrauen dir noch immer.". "Danke!", sage ich "Ich mache mir aber Sorgen um Tim.", Lena schaut verwirrt. "Tim?", fragt sie. "Er hat eine ziemlich große Wunde an der Hüfte und sagte mir, dass er sich verletzt hat, als er bei seiner Strandung an einen Stein gekommen ist.", erkläre ich ihr, worauf sie unbesorgt antwortet: "Nun... das ist durchaus plausibel.". "Schaue es dir bitte einfach einmal an!", flehe ich sie fast an. "Okay, mache ich.", versichert sie mir, woraufhin wir zum abgebrannten Lager weitergehen.

Nach einem ersten Überblick über den Tatort, schaue ich bei meinen Mitschülern vorbei. "Ich helfe dir!", sage ich und helfe Rita, die versucht, vier übrig gebliebene Frachtkisten zu tragen. "Liam?", stupst sie mich nach einigen Metern an. "Ich hoffe, du gewinnst die Wahl! Wenn es einer dieser Chaoten tut, werden wir nie von der Insel kommen und auch nicht lange friedlich zusammen leben.", teilt sie mir besorgt und doch hoffnungsvoll mit. "Ich hoffe doch, dass ich nicht die einzige Option bin!", sage ich leicht humorvoll und zaubere ihr ein kleines grinsen ins Gesicht.

Einen Tag haben wir verloren. Am Abend verkünde ich, wie es weitergehen wird: "Zunächst müssen wir bis zur Wahl und auch danach weiterarbeiten. Nahrung finden, die Insel erkunden, Pläne entwickeln, wie wir hier fort kommen. Nun zur Wahl. In drei Tagen werden wir einen Stadtrat wählen. Dazu sollten sich Kandidaten bereiterklären, die Ministerpräsident beziehungsweise Bürgermeister werden wollen. Um aber Ministerpräsident zu werden, muss man ein Team um sich versammeln, das in den einzelnen Dörfern einen Sitz gewinnt. So wird es zehn Ratsmitglieder geben. Der Präsidentschaftskandidat, dessen Team die meisten Sitzen gewinnt, erhält einen weiteren Sitz für ihren Präsidentschaftskandidaten. Dieser muss dann von fünfzig Prozent der Ratsmitglieder gewählt werden. Warum dieses nicht ganz einfache Wahlsystem? ...Ich möchte, dass jedes Dorf gleichberechtigt repräsentiert wird. Jedes Dorf hat individuelle Bedürfnisse. Kira hat auf diesem Platz eine kleine Sonnenuhr gebaut. Wenn diese morgen auf das Sonnensymbol zeigt, ist es Mittag und es werden keine weiteren Anmeldung zur Wahl angenommen. Morgen Abend verkünden die Kandidaten dann ihre Teams und ihr Wahlprogramm. Am Abend darauf wird es einen freien Wahlkampf geben. Die Kandidaten gehen durch die Dörfer und reden mit den euch persönlich. In drei Tagen am Morgen wird eine Diskussionsrunde stattfinden. Abends werdet ihr den Stadtrat wählen. Ausgezählt werden die Stimmen von freiwilligen, die zu keinem Team gehören oder dessen Kandidat sind. Gibt es dazu fragen?", einige schauen dem Plan zustimmend zu mir. "Ich gebe dann das Wort weiter an Lena und Kira.", kurzer Applaus verabschiedet mich.

Ich höre nachdenkend der Rede von Lena zu, die verkündet, dass die Krankenstation nun einsatzbereit ist. Kira versichert erneut, dass mit Hochdruck an der Aufklärung des Falls gearbeitet wird. Mir tun die wenigen Momente in Einsamkeit gut. Niemand möchte etwas von mir. Ich blicke einfach zu den Sternen, bewege meine Hand links neben mich und muss akzeptieren, dass dort nicht Jonas' Hand ist. Eine Träne läuft mir durch das Gesicht. Von weitem höre ich eine kleine Gruppe nun "Hollywood Hills" von Sunrise Avenue singen und dazu trommeln. Meine Augen werden müde, langsam schlafe ich ein.

THE CAGE - Der KäfigWhere stories live. Discover now