77 - Gescheiterte Flucht

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„Heute ist Freitag, können wir einen Film gucken?" Amelie kommt ins Büro gehüpft, wo Phil gerade wieder meine Hand unter die Lupe nimmt.
„Nach dem Abendessen kannst du dir einen aussuchen", sagt Phil angestrengt. Ich bezweifle, dass er wirklich darüber nachgedacht hat.
„Phil, du machst mir etwas Angst. Sollte man damit doch lieber zum Arzt gehen?" Ich rutsche nervös auf der Couch hin und her.
„Bleib mal ruhig. Aber stimmt, ich als Laie kann das hier nicht so wirklich beurteilen, da sollte sich das mal ein richtiger Arzt angucken", schnaubt er mit vor Ironie triefender Stimme. Oh, habe ich jetzt seine Fähigkeiten infrage gestellt? Passiert.
Amelie ist derweil schon wieder abgesaust.
„Die Blasen sehen nicht schön aus, aber das ist normal. Pass bloß auf, dass du die nicht öffnest."
„Jaha, ich tu doch gar nichts."

Zum Abend gibt es für mich wieder einen Salat, den Paula mir netterweise zubereitet hat. Was anderes habe ich in letzter Zeit eigentlich nicht zum Abendbrot gegessen. Immerhin haben die anderen langsam aufgehört, mich irgendwie zu bedrängen. Und das hilft enorm.

Es gibt definitiv sanftere Varianten, aus dem Schlaf geholt zu werden, als nach dem ersten Augenaufschlag einem Herzinfarkt gerade so von der Schippe springen zu können. Wer rechnet auch schon damit, dass jemand in deinem Zimmer sitzt und dich wortwörtlich wach starrt.
Amelie sitzt mit baumelnden Beinen auf meinem Schreibtischstuhl und guckt mich mit schrägem Kopf an.
„Ist was los?", frage ich, noch immer mit einem etwas erhöhten Herzschlag.
„Mir ist langweilig. Und ich wollte warten, bis zu aufwachst, dass wir was spielen können."
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Es ist Samstag. Wie spät ist es denn?"
„Halb acht. Also höchste Zeit, langsam mal aus dem Bett zu kommen." Sie schiebt sich vom Stuhl und kommt zu mir aufs Bett.
Seufzend lasse ich mich wieder nach hinten fallen und schließe meine Augen. Hier scheint jedoch jemand etwas dagegen zu haben, dass ich meine Augen schließe. Kleine Finger ziehen plötzlich meine Lider hoch und ich blicke in zwei braune Glubschaugen.
„Was willst du machen?", gebe ich mich geschlagen.
„Puzzeln!" Sie springt vom Bett und rennt vor.
„Ich habe aber nicht den ganzen Tag für dich Zeit, ich treffe mich heute mit meinem Freund", stelle ich klar, als ich ihr langsam hinterhergetrottet bin.
„Pff", kommt es nur von ihr. 

„Sooo", zieht Tim unnatürlich lang, nachdem wir uns begrüßt haben.
„Was hast du vor?", frage ich skeptisch.
„Ich würde mit dir gern ein Eis essen gehen. Das haben wir bis jetzt noch nie zusammen gemacht. Und außerdem würde dir das echt mal guttun." Verlegen kratzt er sich am Kopf.
Ich weiß, worauf er anspielt. Allein bei diesem Gedanken schleicht sich ein bedrückendes Gefühl in meinen Bauch. Eis. Nicht gerade etwas, was zu meiner gesunden Ernährung passt.
„Da muss ich erst mal meinen Vater fragen. Immerhin bin ich eigentlich ans Haus gefesselt."
„Ich habe das schon übernommen. Deine Ärzte geben grünes Licht, solang wir alles ruhig machen und nicht rumtoben."
Ich schiebe meine Unterlippe vor. „Schade, eigentlich wollte ich mich direkt mit dir raufen."
Er knufft mir in die Seite.
„Siehst du, so geht das los." In mir braut sich etwas Ärger zusammen. Es ist klar, dass sie mir das erlauben, solang ich endlich mal etwas esse, was ich eigentlich nicht auf dem Schirm habe. Danke auch, vielen Dank.
Tim schiebt sich ohne ein weiteres Wort an mir vorbei ins Wohnzimmer, wo Alex, Papa und Amelie sind und gemeinsam an einem Puzzle verzweifeln. Noch immer etwas überfordert mit dem Gedanken, gleich Eis essen zu müssen, stehe ich verloren im Flur.
„Ich würde dann jetzt deine Tochter entführen", höre ich Tim sagen.
„Mach das, aber achte darauf, was wir gesagt haben", antwortet Papa, laut seiner Betonung lächelnd.
Ach ja, auch noch schön Regeln besprochen oder was?
Ein Zupfen an meinem T-Shirt lässt mich wieder meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken.
„Dieser Tim will dich entführen. Ich würde da aufpassen. Und Franco lässt das einfach zu", flüstert Amelie mit ernster Miene. „Ich habe doch gesagt, dass Jungs kein guter Umgang sind."
Ich lache auf und streiche ihr durchs Haar. „Das hat er nur so gesagt. So sagt man das eben, wenn man mit jemand vertrautem an einen anderen Ort geht, wo man nicht weiß, wohin."
„Na ja, ich traue dem Braten ja nicht so", raunt Amelie mir noch zu. „Aber ich habe dich immer lieb gehabt." Sie umarmt kurz mein Bein, ehe sie wieder zu den anderen geht.
Lächelnd schüttele ich den Kopf. Kinder.
„Na komm, das wird schön." Ohne, dass ich bemerkt habe, dass Tim wieder da ist, greift er nach meiner Hand und zieht mich praktisch aus dem Haus.

Okay, ich gebe zu, das Eis war gut. Nachdem ich meine zwei Kugeln anfangs noch etwas argwöhnisch gemustert habe, ehe ich die ersten Löffel nehmen konnte, ging es immer besser. Vielleicht lag es aber auch einfach nur an Tim, der nichts an meinem Verhalten kommentiert hat. Mir ist klargeworden, wie lecker Eis doch eigentlich ist. Und es fühlt sich nicht schwer im Magen an.
Danach mussten wir aber sofort wieder zurück nach Hause, einer der Abmachungen mit 'meinen Ärzten'. Wie sie meinen.

Diese Situation kommt mir nur allzu bekannt vor. Am frühen Abend rennt Alex nervös durchs Haus, belegt alle fünf Minuten das Badezimmer und fragt uns etliche Male, ob alles sitzt und er gut aussieht. Sein zweites Date, pardon, Treffen, sonst wird er grantig, wenn wir das Date nennen, mit Alicia steht an. Diesmal gehen sie zusammen essen. Richtig romantisch. Also natürlich nur ein normales Treffen, versteht sich. Aber romantisch.
Erneut wird er von ihr abgeholt und rast wie wild los, als es klingelt. Eieiei, das kann ja noch was werden.

Irgendwie verabschieden sich alle anwesenden hier auch relativ schnell ins Bett. Frühschicht am nächsten Tag, anstrengende Schicht gehabt, alles dabei. Tim konnte leider nicht allzu lang bleiben, weswegen ich dann allein übrig bleibe. Na dann, auf einen einsamen Abend. Mein normaler Schlafrhythmus hat sich durch meinen äußerst eintönigen Alltag auch verabschiedet. 

Ich weiß nicht, wie spät es ist, so vertieft bin ich in eine der Trash-Sendungen, die jetzt wiederholt werden.
Ein bremsendes Auto holt mich schließlich aus den Tiefen der schrecklichen Schicksalsschläge, die wirklich immer ein gutes Ende haben. Das muss doch Alex sein. Danke an das offene Fenster, ohne dem ich das gar nicht gehört hätte.
Meine Gedanken sortieren sich einmal kurz neu, probieren, die Wirklichkeit und die Sendung voneinander zu trennen. Hilfe, war ich da wirklich so versunken?
Dann mache ich mich auf leisen Füßen, um keinen zu wecken, ganz schnell auf den Weg in den kleinen Abstellraum neben dem Eingang. Von dort zeigt ein Fenster vor die Tür. Perfekt.
Alex steigt aus dem Auto, das Licht springt an. Er zieht seinen Schlüssel schon aus der Hosentasche, als Alicia aus der Fahrerseite springt. Ihre Lippen bewegen sich, Alex dreht sich wieder um. Uh, was passiert jetzt? Das ist definitiv besser als jede beliebige Sendung.
Sie bleibt vor ihm stehen. Alex' Rücken versperrt mir nun die Sicht. Toll. Er macht einen kleinen Schritt auf sie zu. Sie dürften nur noch wenige Zentimeter zwischen sich haben.
Meine Mundwinkel gehen schon wie automatisch nach oben.
Und dann. Sein Kopf neigt sich nach unten. Ihre Hände fahren in seinen Nacken. Oha. Das ging ja schnell.
Wie gespannt starre ich auf seinen Rücken, als die Lampe vor unserer Tür ausgeht. Hallo, können die sich mal bewegen?
Die Lampe springt schnell wieder an, doch erst, als auch der Schlüssel an der Tür zu hören ist. Er trifft das Loch nicht.
Oh Scheiße, ich will nicht, dass er sieht, dass ich ihn beobachtet habe. Er soll schließlich noch etwas zu erzählen haben. Wieso muss unser Bewegungsmelder auch so verzögert reagieren?
Ich lege einen Super-Sprint-Start hin. Das Schloss dreht sich, ich bin auf der ersten Stufe. Okay, verkackt. Und kaum kommt mir dieser Gedanke, knickt mein rechter Fuß weg. Und ich mache mich lang. Fluchtversuch gescheitert. Aber ordentlich.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now