Neunter Tag (Teil 1)

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»Ich denke, wir sollten etwas ausprobieren, bevor wir wieder heimgehen«, murmelte Akio in meinen Armen.

Wieder saßen wir unter den Kirschbäumen und genossen die Frühlingssonne, die uns von der Kälte um uns herum ablenkte. An diesem Ort schien der Hellhaarige sich so viel wohler zu fühlen als bei mir zuhause und ich hatte es heute nicht im Haus ausgehalten. Alles hatte sich dort seit dem Tod meines Vaters verändert. Der Geruch nach Krankheit und Verwesung war einem gewichen, der nach dem alltäglichen Wahnsinn roch. Als wäre mein Vater komplett ausgetauscht worden. Ich sah meine Mutter nun sehr viel öfter und war regelrecht gezwungen mit ihr zu reden, da die Stille im Haus so unerträglich für uns beide war.

»Was willst du denn ausprobieren?«, lächelte ich leicht und strich Akio durchs weiche Haar. Mir war mittlerweile egal was die Leute von mir dachten. Immerhin sahen sie nur mich, wie ich seltsame Bewegungen hier machte, aber nicht den zweiten Jungen. Dabei nahm gerade dieser wieder meine ganze Welt ein, obwohl er einfach nur da war. Ich war wirklich ein verliebter Trottel. Wiederum liebte ich auch diesen regelrechten Höhenflug, den allein der Anblick Akios in mir auslöste. Wieso sollte ich mich da schlecht fühlen, dass ich wieder nur ihn sah?

Aus Reflex zog ich Akio etwas enger an mich, als dieser sich noch ein wenig mehr als ohnehin schon entspannte und zu dösen schien. »Ich möchte, dass du lernst, loszulassen. Du hältst zu sehr an alten Erinnerungen fest, die längst verblasst sein sollten. Das ist nicht gesund. Das alles verunreinigt deine Seele nur und bindet sie an dich, obwohl sie frei sein sollte. Ende nicht so wie ich, der immer wieder die Vergangenheit durchlebt, obwohl er in der Zukunft leben sollte. Oder zumindest in dem, was du Gegenwart nennst, für mich aber nur einen Augenblick anhält, ehe die Zukunft einen einholt. Deshalb sollte ich dir wohl helfen, den bösen Erinnerungen ein Grab zu schaufeln, um sie unschädlich zu machen. Erst dann wirst du wieder richtig glücklich sein können. Alles vorher war nur das, was du dir als Glück einredest. Vertrau mir.«

Akio klang so müde. Ob es nun an der Wärme lag, die ihn träge machte oder daran, dass in letzter Zeit zu viel Dunkelheit wie Geschosse auf ihn abgefeuert wurde, konnte ich nicht sagen. Oder war er so kraftlos, weil die Kirschblüten über uns langsam zu sterben begannen? Sofort kroch wieder die Angst in mein Herz, dass ich Akio schon morgen würde gehen lassen müssen. Dafür war ich noch lange nicht bereit. Doch viel daran ändern konnte ich wohl leider auch nicht. Allein der Gedanke an das Jahr, das ich wieder einsam und allein in der Masse verbringen würde, ließ mich fast ersticken vor Verzweiflung.

»Und wie wollen wir das machen?«, fragte ich, anstatt Akio auf das anzusprechen, was mir gerade so Sorgen bereitete. Im Moment hielt ich es für besser, ihm nichts davon zu sagen, dass ich mich davor fürchtete, ihn gehen zu lassen. Immerhin wollte er mir beibringen, wie ich genau dies tat. Da war kein Platz für meine Bedenken in diesem Gespräch, also verschwieg ich sie. Auch wenn genau das sich ebenso ungesund anfühlte wie das Denken an die Leichen, die meinen Weg pflasterten.

Nun setzte Akio sich auf und schaute mir direkt in meine Augen. Seine hatten trotz all der Lebendigkeit darin heute etwas Totes an sich, was mir einen kalten Schauder den Rücken hinunter jagte. »Hast du irgendwelche Gegenstände, die dich an Daisuke, deinen Vater oder auch Tsukiko erinnern?«

Nicht ganz wissend, worauf der Hellhaarige hinauswollte, nickte ich. Die gab es tatsächlich. Irgendwo in den vergessenen Winkeln meines Zimmers, wo ich niemals hinschaute, weil es zu sehr geschmerzt hatte, mussten noch alte Erinnerungsstücke liegen. Ich war niemand, der die Vergangenheit in einem Altar aufgebahrte und regelrecht anbetete. Trotzdem lauerte sie in den dunklen Ecken und kam immer dann hervor, wenn ich sie am wenigsten gebrauchen konnte. Wie es auch bei bösen Träumen der Fall war. Wenn doch nur Erinnerungen genauso leicht zu verscheuchen wären.

Blossom BoyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt