03. Dezember 2019: Mein fremder Bruder [Holly]

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Summerfield schaffte es innerhalb kürzester Zeit ein flaues Gefühl in meinem Magen zu hinterlassen.

Ich wusste nicht, was es war – als Kind hatte ich das Grün geliebt, geliebt, wie viel Platz auf den Bürgersteigen war – genug Platz um miteinander Fußball zu spielen und Radschläge zu machen, wenn es unpassend war – oder die langen Ampelphasen für Autofahrende.

Jetzt wandte ich den Blick schnell wieder auf die Rückseite der Kopflehne des Sitzes vor mir. Das Leder der Sitze roch so unnatürlich neu.

»Was verschlägt Sie hierher?« Der Taxifahrer lächelte mich im Rückspiegel an. Ich hob die Schultern.

»Familie. Wir sehen uns nicht mehr so oft«, gar nicht mehr, »und dieses Jahr musste ich versprechen, vorbeizukommen. Wir haben keine gute Beziehung, wissen Sie«, erzählte ich und atmete erleichtert durch. Es tat wirklich gut, das mal laut zu sagen, meine Familie in New York schwieg das tot. Stattdessen taten wir so, als würden wir uns immer noch so lieben wie früher.

»Oh, das klingt kompliziert.« Und hatte vollkommen recht. Das mit Siwon war kompliziert – sehr sogar.

»Ja, er war schon immer so ... Uff, ich weiß gar nicht, wie ich das nennen soll.« Ich seufzte leise und warf einen weiteren Blick aus dem Fenster. Es war beängstigend, wie anders ich war, seit dem letzten Mal. »Ein Eigenbrödler. Früher war er mein bester Freund, aber er hat vorletztes Jahr geheiratet und seitdem hat sich eine Menge verändert. Obwohl es vorher schon nicht mehr gut war. Er hat sein Leben hier vermisst.«

Im Taxi wurde es still, doch ich hatte noch zu viele Worte, die ich loswerden musste. Also redete ich weiter. »Ich meine ...« Ich räusperte mich hastig. »Summerfield ist wunderschön, aber ich bin das Großstadtflair so gewöhnt. Meine Mom hat sehr lange in New York gewohnt und ich bin mit fünfzehn mit meinem Dad und meinen Geschwistern dorthin gezogen.«

»New York, phew.« Herr Taxifahrer fasste sich über sein ergrautes, schütter werdendes Haar. »Ganz schönes Stück weg. Und größer. Schläft's da wirklich nie?«

»Ich weiß nicht genau. Ich hab jedenfalls schon ein paar Nächte durchgemacht und was Schlafendes ist mir da nicht untergekommen«, witzelte ich und entlockte ihm damit sogar ein raues Lachen. Das war schön, fast warm und nett. In New York hatte ich mich noch nie mit einem Taxifahrer unterhalten.

In Summerfield war Feld an Feld. Die Grundstücke waren riesig, die Bürgersteige davor von Eis befreit und mit Holzspänen bestreut

Siwon und Disha wohnten weit nördlich, viel dichter an Monroeton als Greensboro, wo unsere alte High School lag. Ich wäre lieber dorthin zurückgegangen als zu ihm.

Vor dem gekauften Einfamilienhaus meines Bruders hielten wir. Es war von außen braun bestrichen, königliche, weiße Säulen standen unter dem Vordach. Es war so merkwürdig ähnlich wie das Haus, in dem wir früher gelebt hatten.

Ich sah dem Taxi nach, mein Koffer in einer Hand, meine Handtasche um die andere Schulter geworfen. Die Luft, die durch meine Haare fegte, war eiskalt und knochentrocken, auch wenn mein Inneres vor Anspannung zu kochen schien. Selbst wenn Siwon mich bereits gesehen hatte ... Ich brauchte noch Zeit, um mich für diesen Besuch vorzubereiten.

Ich zog mein Handy heraus. Etwas sehr Verzweifeltes in mir wollte, dass alle meine Freunde mir Nachrichten geschrieben hatten, dass es toll werden würde, wie viel Spaß ich haben würde, dass mein Bruder doch noch der Typ war, der beim Wegschauen des Verkäufers Süßigkeiten aus dem Kiosk für mich geklaut oder mir Skateboardfahren in unserer Einfahrt beigebracht hatte. Aber ihre Nachrichten reichten von »Viel Glück« bis »Du schaffst das«. Das war bestimmt gut so, weil so zu tun, als ob das ein toller, weihnachtlicher Abend werden würde, war Betrug, aber ich wollte damit noch weniger zu meinem entfremdeten Bruder reingehen.

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