Kapitel 4

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Der nächste Morgen begann wie die letzte Nacht aufgehört hatte. Der wenige Schlaf machte mich träge. Sonnenlicht fiel durch die halb zugezogenen Vorhänge genau in mein Gesicht, doch es wirkte trübe, wobei ich nicht genau sagen konnte, ob es nun an mir oder den schmutzigen Fenstern lag. Die Bilder der vergangenen Nacht spukten verschwommen durch meinen Kopf und als ich genauer darüber nachdachte, wurde die Erklärung eines Traumes immer realistischer. Das Piepen einer SMS ließ meinen Gedanken platzen und zertrümmerte zugleich meine Traum-Hypothese. „Wo bleibst du denn? Wir hatten 9 Uhr gesagt", stand in schwarzen Lettern auf meinem Handy geschrieben. Ich hatte vergessen meinen Wecker zu stellen. Es war 9:15 Uhr, doch noch mehr als die Tatsache, dass ich Alan warten ließ, beunruhigte mich, dass dies der Beweis für die vergangenen Geschehnisse war. Ich hatte Alan gestern Nacht aufgelöst angerufen. Ich habe ihm von der Hinrichtung und von dem Mädchen erzählt, weil ich all dies tatsächlich gesehen hatte. „Es tut mir Leid. Ich habe verschlafen, ich komme sofort runter" schrieb ich zurück und schlug meine Hände vor dem Gesicht zusammen. Ich will nicht verrückt werden, dachte ich immer und immer wieder laut in meinen Gedanken. Was würde ich wohl machen, wenn ein Bekannter mir solche Dinge erzählen würde? Natürlich würde ich ihn für verrückt erklären. Notgedrungen stand ich auf und machte mich zügig für mein Treffen fertig. Vor dem Badezimmerspiegel, der unverständlicherweise über der Badewanne hing, schüttete ich mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht, in der Hoffnung endlich aus diesem Traum zu erwachen. Die Müdigkeit in meinen Augen verschwand, doch jedes Mal wenn ich in den Spiegel sah, überkam mich der Gedanke in die Augen eines Wahnsinnigen zu schauen. Vielleicht würde es demnächst nicht mehr harmlos enden. Was wäre, wenn ich in meinem Wahn jemanden angegriffen hätte? Tränen schossen mir in die Augen. Ich versuchte sie schnell wegzublinzeln und begab mich auf den Flur. Ein Mann, sein Zimmer war schräg gegenüber von meinem, drückte immer wieder seine Key Card gegen das Schloss seiner Tür. Diese jedoch verweigerte ihm bei jedem Versuch den Zutritt mit einem rot aufblinkenden Licht und einem kurzen, aber dennoch schrillen Warnton. Ich wollte ihn nicht fragen was los war. Ich stand unter Zeitdruck und hatte sowieso meine eigenen Probleme. Meine Schritte wurden schneller. Die anfängliche Angst vor Alan wie verrückt zu wirken, wurde allmählich von Hoffnung verdrängt. Hoffnung, dass es eine andere Erklärung gab und Alan darüber Bescheid wusste. Er klang als wüsste er mehr. Aus den schnellen Schritten wurde Rennen. Wieder rannte ich den Korridor entlang. Auch wenn ich noch keine Erklärung für die Phänomene der letzten Nacht hatte, mied ich nun dennoch den Fahrstuhl und nahm die Treppen. Zu groß war meine Furcht vor einer erneuten Begegnung mit diesem Mädchen. In der Empfangshalle angekommen, erkannte ich die junge, braunhaarige Rezeptionistin wieder, die sich am Abend zuvor um mich gesorgt hatte. Auch ich schien ihr ein vertrautes Gesicht zu sein, sie blickte nach oben und lächelte mir wohlwollend zu, scheinbar erfreut darüber mich in einem leicht besseren Zustand zu sehen. Gerade als sie erneut hinter der Rezeption zum Vorschein kommen wollte, öffnete ich die Tür des Speisesaals und verschwand dahinter. Ich musste mit dieser Frau reden, wenn das alles hier abgeklärt ist, rief ich mir ins Gedächtnis und schaute mich suchend um. Es handelte sich um einen großen, hellen Raum an dessen Wänden mehrere Tische mit Schüsseln bereitstanden. Auch wenn sie an allen Ecken und Enden sparten, so machten sie bei ihrem Frühstücksbüffet keine halben Sachen. Von Rührei über Müsli, bis hin zu mir unbekannten Früchten, die Tische erstrahlten in voller Vielfalt und erfreuten sich größter Beliebtheit. Wie vor einem Ameisenhaufen liefen die Menschen in klar geregelten Schlangen vor den Speisen umher. „John!", rief eine Stimme aus der Menge und als ich mich umdrehte, sah ich Alan winkend an einem halb gedeckten Tisch sitzen. „Ik bin untröstlich, ik befürchte ik bin schon fertig", begrüßte er mich lachend und deutete auf seinen leeren Teller. „Das macht nichts", beruhigte ich und winkte ab „Ich bin ja schließlich derjenige der zu spät ist. Außerdem habe ich eh keinen Hunger im Moment."

Alan: „Jaja stimmt, dein Problem von heute früh. Erzähl es mir."

Neugierig rückte er seine Brille zurecht und nahm einen großen Schluck Kaffee.

Ich: „Alles hat gestern angefangen. Auf der Fahrt hier her sah ich ein Mädchen auf dem Markt stehen. Ich weiß nicht warum, aber sie ging mir nicht mehr aus dem Kopf, sie sah furchtbar aus."

Alan: „Wie sah sie denn aus? Was war so besonders an ihr?"

Ich: „Ich kann es kaum beschreiben. Sie war bis auf die Knochen abgemagert. Ihre Haut war aufgequollen und diese Augen..."

Ich musste kurz innehalten bei dem Gedanken an ihre schreienden Augen. Alan hingegen stellte seine Tasse vorsichtig und korrekt auf dem Beistellteller ab. Er beugte sich leicht nach vorne, wobei ihm eine seiner dunkelblonden Strähnen ins Gesicht fiel und fragte: „Das alles hast du im Vorbeifahren gesehen?"

Ich: „Nein. Bitte halt mich nicht für verrückt, aber gestern Nacht, vor meinem Anruf, da hab ich sie im Aufzug gesehen. Hier in diesem Hotel!"

Meine Stimme wurde zittrig. Mir fehlten die Worte um das Erlebte angemessen zu beschreiben. Ich suchte, aber fand nichts Geeignetes.

Alan: „Du warst um die Uhrzeit noch draußen? Was hast du denn gemacht, wenn ik fragen darf."

Mein Mund wurde trocken. Ich schaute nach rechts, in Richtung eines Fensters, durch das man den Parkplatz deutlich erkennen konnte.

Ich: „Ich...ich war draußen, weil ich etwas gesehen habe. Dort draußen, genau dort drüben auf dem Parkplatz hatten sich Menschen versammelt. Zwei Männer in Uniform zerrten eine Frau auf einen Galgen..."

Alan: „Ja, die erhängte Frau, ik erinnere mich, du hast mir davon erzählt. Die Männer waren in Uniform sagst du?"

Mit dieser Frage blitzten seine Augen auf. Es war ein Blick voller Entschlossenheit. Er strich sich seine Strähne aus dem Gesicht und fuhr sachlich fort: „Weißt du es gibt einige Dinge über Puerta Serra die du nicht weißt John. Eigentlich weißt du gar nichts über dieses Eiland."

Ich: „Sag mir bitte nur, dass es normal ist. Sag mir dass ich nicht verrückt werde! Bitte Alan!"

Ohne es kontrollieren zu können, rannen mir einige Tränen die Wangen hinunter. Dabei hatte ich mir vorgenommen stark zu bleiben. Ich wollte nicht fertig aussehen, doch ich war am Ende. Jetlag, kein Schlaf, ein Galgen und dieses Mädchen. Es war zu Viel. Ich wollte doch nur Urlaub.

Alan: „Du bist nicht verrückt. Ich werde es dir zeigen, komm mit."

Er stand auf und ging, ohne eine weitere Erklärungen zur Ausgangstür. Draußen herrschte gleißender Sonnenschein. Ich hielt mir meine Hand vor die Augen und versuchte mühsam mit ihm Schritt zu halten.

Ich: „Wo gehen wir hin?

Auf dem Parkplatz angekommen, öffnete Alan die Beifahrertür eines alten, grünen Jeeps. Mit einer höflichen Geste bat er mich einzusteigen und lockte mich mit den Worten: „Wir fahren zu deinen Antworten." 

Puerta SerraWhere stories live. Discover now