Kapitel 1

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Ich musste unweigerlich an Reinhard Mey's „Über den Wolken" denken, als ich zu meiner Rechten, aus dem kleinen rundlichen Flugzeugfenster schaute. Es schien fast so, als wäre die Wolkendecke, welche unter uns vorbei kroch, der eigentliche Boden und die Freiheit des blauen Himmels wäre tatsächlich grenzenlos. Es war mein erster Flug. In meinen inzwischen 27 Jahren hatte es mich nie wirklich weit von meiner Heimat weggetrieben. Nun wagte ich mich hinaus, und das alleine. Ich konnte nicht mehr in meiner Wohnung bleiben. Zu viele Erinnerungen machten mir jede Stunde des Tages dort zu einer Qual. Ich musste weg von meinem alten Leben, musste weg von ihr, wenn auch nur für einige Wochen. „Ich heiße sie nochmals herzlich Willkommen an Bord des Fluges 100267 Puerta Serra. Ich heiße Joachim Dietmann und bin für die nächsten 7 Stunden ihr Pilot", ertönte eine leicht verzerrte Männerstimme. Die gleiche Durchsage, wie bereits zu Beginn des Fluges. Mit einem „Bing" erlosch das Anschnallzeichen. Theoretisch hätte ich jetzt die Toilette aufsuchen können, allerdings stand ich dem Fliegen noch etwas skeptisch gegenüber, schließlich konnten jederzeit Turbolenzen auftreten. Ich setzte mir meine Kopfhörer auf, wodurch ich die Stimmen um mich herum nur noch als gedämpfte Laute wahrnahm. Auch die Musik, die ich nun anschaltete, änderte nichts an dem gewöhnungsbedürftigen Druck, der sich seit dem Start auf meine Ohren legte und seither nicht verschwand. Angestrengt versuchte ich ihn mithilfe meines Kaugummis weg zu kauen und schielte dabei zu meinem Sitznachbarn herüber, der entspannt seine Zeitung las. Er hatte sich mir am Anfang des Fluges als Alan Norwick vorgestellt. Ich schätzte ihn auf Mitte Dreißig, vielleicht älter, vielleicht jünger, eine Einschätzung fiel mir bei ihm schwer. Er hatte mittellange, dunkelblonde Haare, von denen ihm stets einzelne Strähnen auf der Stirn hingen und ihn so nervten, dass er sie mit einer Handbewegung nach hinten wischte, nur um die gleiche Prozedur wenige Minuten später zu wiederholen. Mit seiner rundlichen, dünnen Brille lag er, wohl eher unbewusst, wieder im Trend der Zeit. Im Zusammenspiel mit dem Dreitagebart, machte er jedoch einen schon beinahe autoritären Eindruck. Als relativ junger Professor an einer Universität hätte er durchgehen können.

Ich warf einen Blick auf seine Zeitung, doch stellte zu meiner Überraschung fest, dass ich bis auf einzelne Zahlen von Tagesdaten, nichts verstehen konnte. Hierbei handelte es sich um eine, mir völlig unbekannte Sprache. Ich war kein Sprachgenie und konnte mich im Ausland bis jetzt stets nur sehr mühsam mit meinen eingerosteten Englischkenntnissen verständigen. Alan sprach glücklicherweise recht verständliches Deutsch, wenn auch mit einem amerikanischen Akzent, der sich insbesondere darin äußerte, dass sich seine „ich's" in „ik's" verwandelten. Der Zeitung nach zu urteilen beherrschte er also mehrere Sprachen, vielleicht ein Zeichen dafür, dass er öfter verreiste. Wenn ich mich so umsah, fielen mir einige Personen auf, die angespannt wirkten, Alan gehörte nicht zu ihnen. Ich konnte mir ihn gut als jemanden vorstellen, der schon weit herumgekommen war und sich an das Fliegen gewöhnt hatte. Ich mochte es solche Spekulationen über fremde Leute anzustellen, es hatte etwas von einem Detektivspiel. Man musste versuchen, aus den verfügbaren Informationen logische Schlüsse abzuleiten. Ich kam schnell auf seine Zeitung zurück, denn bei genauerer Betrachtung fiel mir eine Ungereimtheit auf. Das Datum der Zeitung war nicht aktuell, bei weitem nicht. Wir hatten den 19.08.2017, seine Zeitung verwies jedoch, wie mir jetzt auffiel, in etwas altmodischer Schrift, auf den 18.02.1944. Alan drehte den Kopf zu mir und bewegte seinen Mund zu einem Haufen unverständlichen Grummelns. Ich nahm die Kopfhörer ab, doch ließ die Musik laufen. Ich hoffte auf ein kurzes Gespräch. „Sorry, was hast du gesagt?", fragte ich und legte die Kopfhörer auf meinen Schoß. Er schmunzelte leicht und wiederholte mit ruhiger Stimme „Ik hab dich gefragt, ob du Zaiwan sprichst. Mir kam es vor als würdest du die Zeitung lesen."

„Oh, nein ich hab noch nie was von dieser Sprache gehört, ich fand eher das Datum interessant. Warum liest du eine über 70 Jahre alte Zeitung?"

Sorgfältig faltete er sie zusammen und antwortete: „Ik interessiere mich für die Geschichte John. Puerta Serra hat eine sehr lange Geschichte, ik wollte mich, wie heißt es..schlauer machen, bevor ik die Insel erkunde."

Puerta Serra, eine kleine Insel mitten im Atlantik. Einer meiner besten Freunde aus Uni-Zeiten hatte vergangenes Jahr dort Urlaub gemacht und sie mir wärmstens weiterempfohlen. Sie ist unbekannt und dementsprechend kaum vorhanden ist die Tourismusbranche. Es existiert gerade mal ein Hotel auf der gesamten Insel, das allerdings auch drei Sterne innehat. Immerhin etwas, dachte ich bei der Buchung, denn im Vordergrund standen laut Berichten ohnehin die menschenleeren Sandstrände und freie Natur in all ihren Variationen.

„Erkunden? Ich will nur entspannen, am Strand liegen und für ein paar Wochen alle Sorgen vergessen."

Sein Blick senkte sich nachdenklich auf die gefaltete Zeitung und verblieb dort wenige Augenblicke, bis er mich schließlich wieder ansah und fragte: „Private Gründe für die Reise?"

„Bei mir Zuhause hat sich alles verändert in letzter Zeit. Ich musste mal raus."

„Ah eine Frau, richtig?"

Ich schaute erneut aus dem Fenster. Die Sonne fing langsam an unterzugehen und hüllte die Wolken in ein sanftes orange-rötliches Licht. „Schon möglich", murmelte ich und setzte meine Kopfhörer wieder auf. Die Playlist war bei „unserem Lied" angekommen. Ich drehte die Lautstärke hoch, auch wenn es immer noch wehtat, der Moment passte. Ich wollte den Schmerz besser jetzt fühlen, als mich später im Urlaub ständig daran zu erinnern. Möglicherweise fand ich dann endlich den Mut dieses Lied zu löschen. Mit diesem Gedanken verlor ich mich irgendwo zwischen dem dunkler werdenden Blau und dem warmen Wolkenboden.  

Puerta SerraWhere stories live. Discover now