„Nun denn." Schnuffel schließt die Augen und wird lila. Im Gegensatz zu Mary zeigt Prinz Kunibert keine Spur von Unbehagen. Tiefenentspannt lässt er sich in einer Ecke der Höhle zu einem Nickerchen nieder, flackert und verschwindet. Mary hat keine Zeit sich darüber zu wundern, denn die lila Eule öffnet den Schnabel zu einem hallenden Gelächter, das jeden Knochen in ihr erzittern lässt.

„Lach", stimmt Mary vorsichtig mit ein. Sie ist sich noch nicht sicher, ob es gut oder schlecht um sie steht, also will sie die Wogen möglichst glatt halten. „Wie war's?"

„Grauenvoll", lacht die tiefe hallende Stimme, „Grauenvoll, aber sehr unterhaltsam. Ich hatte mir mehr erwartet, doch ihr konntet mich mit diesem überzogenen Ende überraschen."

Es ist so laut als käme die Stimme von überall gleichzeitig und nicht aus der Brust der Eule. Der Boden vibriert bei jedem Wort und das Echo dröhnt unnachgiebig in Marys empfindlichen Ohren.

„Das... freut uns?"

Sie ist wahnsinnig naiv, die kleine Mary Sue. Als Protagonistin liegt es in ihrer Natur zu glauben, dass am Ende alles gerecht wird. Dass das Gute gewinnt, weil es alles gegeben hat was in seiner Macht steht. Sie lebt eine Lüge.

Das Gute gewinnt fast nie, denn oftmals eignet es sich nicht. Das Gute gewinnt fast nie, selbst wenn es all sein Herzblut für seine Mission gibt, einfach weil der Erzähler... nicht in der Stimmung ist, weil seine Charaktere nicht der Geschichte gerecht werden, weil ihm die Kreativität fehlt, weil ihn die Realität auf Trab hält oder er einfach nicht zum Punkt kommt in dem, was er erzählt. Das Gute wird verworfen. Es landen auf der Gedankenmüllhalde, zwischen Traumfetzen und überschüssigen Informationen, zwischen Gedichten und holprigen Dialogen, zwischen Metaphern, Kalenderweisheiten und längst vergessenen Fantasiegestalten. Irgendwo da unten gurkt auch meine Idee von gestern Nacht herum, die mir zu dem Zeitpunkt so unfassbar genial vorkam. Ich wollte sie erzählen, doch sie glitt mir aus den Fingern wie ein frisch gefangener Aal und ward nie wieder gesehen. Ein Jammer, denn sie war gewiss schon im Entwurf tiefgründiger als alles, was meine kleine Mary Sue hervorbringen könnte. Ich fürchte Mary ist keine gute Freundin. Ich kann sie mir nicht leisten. Als Marionette ist sie schlicht und eintönig, unnachvollziehbar stumpfsinnig für die Leser, als Schauspielerin ist sie einfallslos und noch jämmerlicher als gewöhnlich. Ich muss mich von ihr trennen, selbst wenn die Zeit mit ihr milde amüsant war. The Show must continue.

The Show must go on", korrigiert Schnuffel altklug und öffnet die Augen. „Und du bist ein Bastard."

Mary, die die letzten paar Absätze nicht mitverfolgen konnte, guckt ahnungslos wie ein Lämmchen. „Warum bin ich ein Bastard?"

„Bezieh nicht immer alles auf dich", seufzt die blaue Eule und verdreht die Augen.

„Oh, der Erzähler. Was macht er denn?", fragt Mary. „Wo ist er hin? Ist er noch hier?"

„Natürlich ist er hier irgendwo", schnauzt Schnuffel, „Dieser Verräter. Nur wo genau er ist, das lässt sich schwer sagen. Wenn er sich nicht gerade an eine Figur bindet, kann er eigentlich überall sein. Warte mal..."

Schnuffel flattert an den Spiegeln vorbei zum Höhlenausgang wobei er leise murrt: „Diese Spiegel machen mich wahnsinnig. Er hätte sie ruhig eingangs erwähnen können, aber wie immer vernachlässigt er die Atmosphäre..."

„Was macht der Erzähler eigentlich in seiner Freizeit?", will Mary wissen und folgt der Eule, indem sie ein Rad schlägt. Sie trägt inzwischen wieder ihre Flamingojacke und die schwarzen Leggins, obwohl sie sich nicht daran erinnern kann, sich umgezogen zu haben.

„Er hat keine- wieso stellst du schon wieder so komische Fragen? Sehr verdächtig."

„Dafür fliegst du schon verdächtig lange zum Höhlenausgang", gibt Mary zurück. Sofort bleibt Schnuffel in der Luft stehen. „Recht hast du."

Sie blicken hinaus ins Weltall. „Wie ich es mir gedacht habe", meint Schnuffel fachmännisch und begutachtet die endlosen Türenreihen, die in der Ferne leuchten. „Wir sind aktiv, also ist er hier bei uns. Obwohl..."

„Obwohl was?"

Plötzlich ertönt ein Grollen. „Ach, vergiss es", ruft Schnuffel, „Jetzt kommt eine Actionszene!"

Im nächsten Moment erscheint eine riesige modrige Krallenhand im Höhleneingang und fischt blind nach Eule und Mädchen. Kreischend weicht Mary zurück und flüchtet sich weiter ins Innere vorbei an den Spiegeln zur Nische. „Was machen wir?", quietscht sie.

„Was weiß ich denn! Er erzählt momentan!", quietscht Schnuffel zurück. Unter ihren Füßen öffnet sich das Tor zur Hölle.

„Mary, Vorsicht! Das ist die Gedankenmüllhalde! Oh, schau mal, dein Monolog!"

„Welcher Monolog?"

„Ganz genau! Und jetzt halt dich besser fest!"

Nur mit Mühe kann sich Mary an die Nische klammern. Der Boden hat sich inzwischen fast vollkommen verabschiedet. Ihre Füße treten in die Leere. Aufgelöst kreist Schnuffel durch den Raum. „Komm her, du Feigling!", schnarrt er die Decke an, während Mary mal wieder mit der Ohnmacht kämpft.

„Warum tut der Erzähler das?", jammert Mary, „Warum will er uns loswerden? Ich dachte, er ist mein Freund!"

„Sei nicht naiv, du bist nur seine Marionette!", schuhut Schnuffel, „Er wollte lediglich Druck auf dich ausüben... als ob sich Druck je positiv auf Kreativität ausgewirkt hätte."

Zum hundertsten Mal bricht Mary in Tränen aus. Sie fühlt sich benutzt und verraten. Obwohl es ihr schwergefallen ist, hat sie versucht, dem Erzähler zu helfen. „Ich will doch eine gute Freundin sein. Ich weiß nur nicht wie!", heult sie. Ihre Hände werden rutschig.

„Und das ist okay, es ist okay! Echte Freunde akzeptieren das, hörst du?", ruft Schnuffel und dreht den Kopf wieder zur Decke. „Hörst du das?! Echte Freunde respektieren sich gegenseitig so wie sie sind!"

„Echte Freunde schmeißen einander nicht in den Müll. Schnief", schnieft Mary und gleitet ab. Jede Kraft verlässt ihre Arme. Sie kann sich nicht mehr halten.

„Hiergeblieben, Mary!"

Es donnert. Mary stürzt.

Mary, die kleine Mary SueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt