AKT IV

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Sie befinden sich an einem glitzernden See. Schillernde Fische schwimmen durchs Wasser. Einige sirren mit dünnen Flügeln knapp über der Wasseroberfläche. Obwohl Schnuffel es furchtbar kitschig findet, labt sich in unmittelbarer Nähe eine Einhornfamilie am saftigen Grün und jemand hat wie zufällig einen reich gefüllten Picknickkorb für drei bereit gelegt. In ein dezentes Ballkleid gehüllt, sitzt Mary am Wasser im Schatten einer mächtigen Weide und liest ein leeres Buch. Dabei murmelt sie leise: „Es war ein mal ein bezaubernder Prinz, der am See spazieren ging."

Fröhlich klettert der gerufene Prinz aus seinem Erdloch, streicht sich durch sein kupferrotes Haar und stolziert in Richtung Weide.

„So bezaubernd finde ich den gar nicht- schau mal seine Ohren an!", zischt eine kleine blaue Eule in den Ästen des Baumes, doch Mary ignoriert sie.

„Da sah er auf einmal eine Prinzessin, die lesend am Wasser saß. Sie war wunderschön."

„Von wegen. Eingebildet, das ist sie!", kommentiert Schnuffel und versucht schon zum zweiten Mal am Tag die Augen zu verdrehen.

„Seid gegrüßt, holde Maid. Was verschafft mir die Ehre?", säuselt der Prinz, ohne das Mary ihn dazu aufgefordert hätte.

„Oh, äh", stottert sie und nimmt das Buch runter. Ihr fällt auf, dass sie bisher noch kein Wort mit ihm geredet hat.

„Schicksal", gibt sie etwas unbeholfen zurück, doch der Prinz ist ganz hingerissen von ihr.

„Das muss es sein!", strahlt er und kniet sich vor ihr nieder. „Es ist die wahre Liebe!"

Mary lacht verlegen. „Lach, lach", macht sie und läuft knallrot an.

„Und welch ein bezauberndes Lachen!", schwärmt der Prinz, „Ich bin Prinz Kunibert und noch nie vernahm ich solch ein glockenklares Lachen!"

Zwischen den Zweigen der Weide bricht ein hemmungsloses Gegacker los.

„Oh, Verehrteste, verspottet er mich?", fragt Kunibert bestürzt.

„Nein, grins. Ignoriert ihn, Kunibert."

„Selbstverständlich, Liebste. Wie war gleich euer Name?"

„Mary", sagt Mary und die Augen ihres Traumprinzen glitzern heller als der See. Er nimmt ihre Hand und flüstert: „Wollt Ihr mich heiraten, edle Mary?"

„Nur wenn wir uns duzen", flüstert Mary knallrot zurück und das Paar fällt sich überglücklich in die Arme. Die Umarmung dauert so lang, dass es merkwürdig wird.

„Ende", nuschelt Mary. Schnuffel klatscht mit den Flügeln. Seine Augen sind noch wässrig vom Lachen. Kunibert und Mary lösen sich voneinander und grinsen über beide Ohren.

„Dann können wir jetzt endlich essen!", freut sich Schnuffel und flattert zum Picknickkorb, um sich ein Sandwich zu schnappen. „Aber nur kurz, dann holen wir den Erzähler- wenn er nicht selbst kommt."

Sofort stürzt sich das Prinzenpaar auf die Sandwiches.

„Deliziös! Thunfisch mit Mayo!", freut sich Kunibert, „In meinem Erdloch speiste ich nur Regenwürmer!"

Hinter seinem Rücken wechseln Mary und Schnuffel betretene Blicke. Dann entdeckt die Mary Sue ein veganes Schokocroissant von Starbucks im Picknickkorb und die Regenwürmer sind vergessen. Schmatzend und schlingend leeren die drei den Proviant. Sie ahnen noch nicht, dass das ihr letztes gemeinsames Mahl sein wird...

„Es wird Zeit", grummelt Schnuffel schläfrig und reibt sich den vollgeschlagenen Bauch. Mal wieder hat er die Federn aufgeplustert, macht aber einen zufriedenen Eindruck. Halbwegs elegant lässt er sich auf seinem Felsen nieder, der aus dem Nichts erscheint, und es wird dunkel. Der Boden nimmt steinige Konturen an, die Welt wird kleiner und kantiger und die Picknickdecke versinkt mit einem Plopp im Boden. Sie sind zurück in der Höhle, in der Mary den Erzähler zum ersten Mal getroffen hat.

Mary, die kleine Mary SueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt