„Himmel, steh mir bei", flüstert die Eule und klettert auf die Schulter der Mary Sue, um wenigstens einen Hauch von Mitleid vorzutäuschen. „Du hast wirklich ein schweres Leben und so, aber wir müssen langsam los."

„Wohin denn? Gehen wir shoppen?", fragt Mary hoffnungsvoll, „Das würde meinen tiefen Schmerz nämlich ein bisschen lindern."

Shoppen, klar, denkt die Eule verbittert, Willst du mich umbringen? Fünf Stunden Nebenhandlung, so weit kommt es noch!

„Zumindest so was Ähnliches", sagt die Eule und hüpft auf Marys Oberarm. „Geh mal zur Zimmertür."

Mary legt ihren Make-up Pinsel nur widerwillig beiseite und bugsiert die kleine Eule zur Zimmertür.

„Öffnen."

Mary lehnt sich auf die Klinke.

„Ganz toll", schnurrt die Eule und tätschelt ihr den Kopf, „Und jetzt gehst du raus."

Mary bewegt sich nicht von der Stelle.

Sofort lässt die Eule das Getätschel sein. „Raus, Macciata. Was hast du denn?"

„D-das ist nicht... wo ist mein Flur?", stammelt die Mary Sue. Vor ihr erstreckt sich ein langer Gehweg aus Pflasterstein, der im Nichts schwebt. Aber was heißt schon „Nichts"- drum herum ist eben Weltall. Das besteht ja größtenteils aus Nichts, aber sehen tut man schon was. Schwärze, Sterne, schwarze Sterne, schwarze Löcher, Pflastersteine, die sich etwas wackelig zu einem Weg zusammenfügen, Pudding...

„Du bist mal wieder albern", ermahnt die Eule den Himmel, dann dreht sie den Kopf um hundertachtzig Grad zu Mary. „Und du bist ein Feigling. Jetzt geh schon. Das ist stabil."

Die Mary Sue wagt sich mit dem ersten Fuß auf den Pflastersteinweg, der wie eine weiche Matratze unter ihrem Modelgewicht nachgibt.

„Ich will nicht", jammert sie und setzt zögerlich den zweiten Fuß vor, „Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht..." und bei jedem Schritt wird sie schneller, bis sie schließlich joggt. Wer schon mal beobachtet hat, wie jemand über eine Matte oder ein Trampolin läuft, weiß, dass das ulkig aussieht. Wer selbst mal in die Verlegenheit gekommen ist, weiß auch, dass das nicht nur ulkig aussieht, sondern auch ulkig ist. Kein Wunder also, dass Mary nach kurzem Eingewöhnen wie eine Geisteskranke gackert, während die Pflastersteine sich vor ihr fleißig zu einem Weg zusammensetzen.

„Das ist super! Das könnte ich jeden Tag machen! Lach", lacht Mary.

„Dreh dich mal um", befiehlt die Eule, die sich immer noch tragen lässt. Mary bleibt stehen und dreht sich um.

„Ui, wow", sagt sie. In der Ferne sieht sie eindeutig ihre Zimmertür, doch sie ist nicht die einzige Tür im Weltall. Darüber, darunter und links und rechts daneben erstrecken sich endlose Reihen an Türen, keine gleicht der anderen. Ihre eigene strahlt in grellem Rosa, die meisten anderen schimmern matter oder sind völlig farblos. Bei einigen lassen sich Farben vermuten, doch keine leuchtet so sehr wie Marys. Doch, da oben! Eine Tür in Tiefblau fällt ihr ins Auge. Die Farbe erinnert sie an jemanden...

„Das ist meine", schuhut die Eule stolz, „Und bevor du fragst: Das sind Charakter-Türen. Wenn der Erzähler sich einen Charakter ausdenkt, nehmen sie eine passende Farbe an. Je nach dem wie sehr der Erzähler gerade an sie denkt, leuchten sie mehr oder weniger. Wir sind gerade aktiv, siehst du?"

Sie deutet mit dem Flügel auf die blaue und die rosafarbene Tür. Mary nickt fasziniert.

„Und wem gehört die blassgelbe da unten?"

In dem Moment blinkt die Tür auf und der Fensterputzer von vorhin streckt seinen Kopf hinaus und winkt.

„:D", macht Mary.

Mary, die kleine Mary SueWhere stories live. Discover now