„Also...", setzt sie schließlich zum dritten Mal an: „Gehört es nicht dazu, dass der Erzähler die Umgebung und die Figuren beschreibt?"

„Klar."

„Dann will ich endlich beschrieben werden. Man weiß gar nicht wie ich aussehe- und das ist doch bei meiner fantastischen Figur ein Skandal! Und meine teuren Designer-Klamotten, die Boots, die schwarzen Leggins, das Top mit der Aufschrift „YOLO" und die Jacke mit dem trendigen Flamingomuster, die sind doch wichtig! Mal ganz zu Schweigen von meinen langen blond gelockten Haaren und meinen aquamarinblauen Augen und meinen wohlgeformten Lippen und meinen langen, dunklen Wimpern und meiner makellosen Haut-"

„Komm zum Punkt."

„- Und natürlich meinem dezenten Make-up, das meine elfenhafte Schönheit unterstreicht! Könnte er das mal erwähnen? Klimper klimper."

Sie klimpert mit ihren langen, dunklen Wimpern.

„Klar, schon geschehen", sagt die Eule.

„Au, fein! Und mein Zimmer? Können wir das auch mal beschreiben? Für die Atmosphäre und so?"

„Welche Atmosphäre", hustet die Eule so leise, dass Mary es nicht hören kann. „Doch, natürlich, das kann er machen. Das sollte er sowieso öfter tun. Meistens bekommt man das Gefühl in einem leeren weißen Raum zu stehen, weil er es nicht auf die Reihe kriegt, wenigstens die Wände zu beschreiben. Die sind hier übrigens rosa", schuhut sie mit einem bösen Seitenblick zum Fenster, wo sich immer noch kein Erzähler befindet. Da sind nur blumige wehende Vorhänge, in denen eine stecknadelgroße Spinne wohnt. Sie hat grüne Beine mit neongelben Härchen darauf, die manchmal elektrisch knistern. Das kommt daher, dass die Spinne eine lange Zeit zusammen mit einer rot gesprenkelten Motte in der Steckdose wohnte, weil-

„Nicht so detailliert!", kreischt die Eule, was Mary zu einem kleinen Hüpfer veranlasst. Sie hat sich inzwischen ihr hässlich glitzerndes Schmink-Etui aus dem sonnig gelb gefliesten Badezimmer mit dem gerüschten Duschvorhang geholt und trägt metalllila Wimperntusche auf, die ihr nicht steht und sich außerdem mit ihrem kirschroten, wasserfesten Lippenstift beißt.

„Vergessen wir das, dieser Erzähler nimmt uns nicht ernst. Am besten ich mache es selbst", sagt die Eule und will die Augen verdrehen, als ihr auffällt, dass Eulen ihre Augen gar nicht bewegen können. Sie räuspert sich peinlich berührt. „Das hier ist ein stinknormales Zimmer für eine verwöhnte Vierzehnjährige mit Bett, begehbarem Kleiderschrank und einem Fenster. So simpel."

„Frisst du Spinnen?", erkundigt sich Mary gedankenabwesend, während sie ihre Lockenpracht mit einer von diesen modernen Haarbürsten ohne Griff zähmt. Dass sie eine grünbeinige elektrische Spinne als Mitbewohnerin hat, ist ihr nicht geheuer.

„Sag bloß, du fürchtest dich vor Spinnen", schuhut die Eule wieder in ihrem üblichen sarkastischen Tonfall, „Der absoluten Standardangst. Du kannst doch unmöglich so klischeehaft sein wie du aussiehst."

Davon lässt Mary sich nicht beeindrucken. „Meine böse Stiefmutter hat gesagt, ich kann alles sein, was ich will."

„Klar hat sie das."

„Und dann...", Mary stockt, schluchzt und bricht in ein hollywoodreifes Geheule aus, „Und dann sind meine Eltern in einem Autounfall ums Leben gekommen und ich wusste ich kann alles sein, außer je wieder glücklich!"

„Mein Beileid", sagt die Eule ohne Anteilnahme. „Ich wette das Einzige, das dein gebrochenes Herz heilen kann, ist irgendein Vampirmacker."

„N-nein", schluchzt Mary und trocknet ihr tränennasses Gesicht mit einem blauen Flügel der Eule, die sich daraufhin angewidert schüttelt. „Ich b-brauche einen P-prinzen. O-oder einen Mafiaboss. Schnief."

Mary, die kleine Mary SueWhere stories live. Discover now