Aber dafür hat sich Yoongi heute Nachmittag die Haare gefärbt. Ein leuchtendes Mintgrün schmückt nun seine wilden Gedankengänge. Eigentlich ist es viel zu auffällig, weil er sich eher für einen unauffälligen Typen hält. Aber die Idee kam ihm, als er ein bisschen zu lange seine Kaiserpfauenfische betrachtet hat. Sie sind so schön bunt, leuchten in grellen Farben und schämen sich kein Stück dafür. Yoongi wollte auch ein bisschen leuchten. Jetzt weiß er nicht, ob er die Entscheidung bereuen soll. Er hätte länger darüber nachdenken sollen, aber bevor es dazu kommen konnte, wurde er schon wieder von den Preußenfischen abgelenkt. Vielleicht wäre Silber auch eine gute Haarfarbe für ihn gewesen.

Jetzt ist es schon Abend und in ein paar Minuten wird Jimin, der Junge von gestern, dem Yoongi im Aquarium begegnet ist, mit seiner Live-Performance als Straßenmusiker beginnen. Yoongi hat sich eine kleine Wohnung am Haeundae Beach gemietet, damit er den Arbeitsweg zu Fuß bewältigen kann. Er hat kein Auto und auch keinen Führerschein, hat auf solche Dinge nie viel Wert gelegt und die überfüllten Straßenbahnen waren ihm schon immer nicht ganz geheuer. Die Miete ist ein bisschen zu teuer für sein Gehalt, aber Yoongi ist ziemlich sparsam. Er kommt damit klar. Deswegen ist die Entfernung zum Starbucks keine Ausrede, um die Einladung von diesem Jimin nicht anzunehmen. Im Endeffekt, denkt Yoongi, hat er wirklich lange keinen Milchshake mehr getrunken. Seine Gedanken sind den Tag über immer lauter geworden. Momentan geht es dort drin so kunterbunt zu, dass sich ein leichter, aber penetranter Kopfschmerz in seinen Schläfen niedergelassen hat. Vielleicht kann Yoongi ihn mit genügend Zucker etwas besänftigen. Er vergisst eine Mütze anzuziehen, um die bunte Haarpracht darunter zu verstecken, aber er erinnert sich noch daran, ein bisschen extra Kleingeld einzustecken, um es Jimin zugeben. Das macht man schließlich so bei Straßenmusikern. Auf dem Weg zum Starbucks versucht sich Yoongi ebenfalls daran zu erinnern, dass er selbst ein bisschen leuchten wollte. Die Menschen auf der Straße beachten ihn nicht mehr als sonst. Vielleicht reicht eine neue Haarfarbe dafür nicht aus. Gleichzeitig fragt sich Yoongi, ob er einen Schokokaramellshake bestellen soll oder lieber etwas Fruchtiges. Hätte er sich etwas Anderes anziehen sollen? An seinem nächsten freien Tag möchte er gerne neue Fische für das Salzwasseraquarium kaufen. Das hat er vor einiger Zeit vergrößert, ohne die Artenvielzahl zu erhöhen. Er wollte den bisherigen Bewohnern erst Zeit geben, um ihr neues Zuhause zu erkunden, bevor sie dieses auch noch mit neuen Artgenossen teilen müssen. Eigentlich mag Yoongi das Thrasher-Shirt, welches er heute trägt. Es ist auch noch gar nicht so alt.

Das Erste was Yoongi bemerkt, als er sich seinem Ziel nähert, ist, dass Jimin ganz sicher nicht nur die Starbucks-Mitarbeiter gemeint hat, als er von seinen wartenden Fans gesprochen hat. Tatsächlich hat sich eine kleine Traube Menschen vor dem Starbucks gebildet und achtet gespannt auf das Schauspiel vor ihnen. Als Zweites fällt dem minthaarigen Jungen auf, dass fast die Hälfte der lauschenden Menschen einen Starbucks-Becher in der Hand hält. Jimin kurbelt also tatsächlich das Geschäft an. Kein Wunder, dass für ihn die meisten Getränke gratis sind. Erst als Drittes fällt Yoongi auf, dass es für die Menge an Menschen wirklich erstaunlich ruhig ist. Keiner von ihnen scheint sich zu unterhalten, nicht einmal flüsternd. Sie alle lauschen gebannt den Klängen und wirken so, als würden sie diese nicht durch ihre eigenen Töne zur Disharmonie zwingen wollen. Also bleibt der Junge mit einem gewissen Abstand zwischen ihm und der restlichen Menge stehen. Er kann Jimin nicht sehen, aber er weiß auch so, von wem die Gitarrenmusik stammt. Yoongi setzt sich auf den Mauervorsprung, der den Gehweg vom Strandabschnitt abgrenzt, und schließt die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Die anderen Gedanken in seinem Kopf müssen jetzt Mal kurz Pause machen, werden gewaltsam und mit aller Macht zurückgedrängt. Daraufhin verstärken sich seine Kopfschmerzen erst ein wenig, doch dann werden die ersten ruhigen Akkorde in seinen funktionierenden biochemischen Prozessen verarbeitet und ab diesem Moment ist es leichter. Die Gitarre spielt einen einfachen, aber eingängigen Rhythmus und als Jimins Stimme einsetzt, hätte Yoongi beinah vor Überraschung seine Augen wieder geöffnet. Seine Stimme ist viel heller, höher, als er erwartet hätte, fast schon so, als würde sie zu einer Frau gehören. Der Text ist eine Mischung aus Englisch und Koreanisch. Er singt davon, dass er nach einer endlosen Nacht endlich auf den Morgen getroffen ist. Dass er es dieses Mal besser machen wird, dass er sich dieses Mal stärker daran festhalten wird. Dabei weht die Stimme so zärtlich zu ihm herüber, dass seine Gedankenloopings nicht mehr gewaltsam unterdrückt werden müssen. Jimins Stimme dämpft sie so sanft, wie es bisher immer nur eine andere Sache getan hat. Und plötzlich ist Yoongi unter Wasser. Es fühlt sich nicht an wie Ertrinken. Er kann unter Wasser atmen.

Unter Wasser hören wir einander mit dem HerzenWhere stories live. Discover now