16. Kapitel

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Als ich aufwachte, tat mir alles weh. Mein Kopf, der dumpf pochte, meine Augen, die bei jedem Blinzeln stachen, und meine Kehle, als ich schluckte. Fesseln drückten auf meine Rippe, sodass jeder Atemzug sich anfühlte, als würde man mir in die Seite schlagen.
Erst jetzt nahm ich meine Umgebung war – die kahlen Fichtenstämme und der klebrige Harzgeruch, der schwer in der Luft hing.
Ich saß auf dem Boden, die Hände auf den Rücken gefesselt und an einen Baum gelehnt. Die braunen Fichtennadeln drangen mit ihren nadelscharfen Spitzen durch meine Kleidung und piekten unangenehm in meine Haut. Ich blinzelte, als ein heller Sonnenstrahl auf mein Gesicht schien und mich blendete. Ich musterte meine Umgebung genauer, sah die Menschen, die mir zuvor nicht aufgefallen waren. Dann wanderte mein Blick in die Baumwipfel und mir blieb der Mund offen stehen. Ihre Behausungen glichen den Kuppeln, die Eichhörnchen bewohnten, und die Böden der Kuppeln bestanden aus stabilen Ästen, die man um den kahlen Stamm befestigt hatte. Dann waren aus unzähligen Ästen, Zweigen und Lederriemen kugelrunde Behausungen geflochten worden. Das ist ja unglaublich! Ich konnte mir beim besten Willen nicht zusammenreimen, wie das funktionierte. Irgendwie war es mir vertraut, doch alles in mir sträubte sich gegen den Gedanken, hier heimisch zu sein.
Die Menschen, die unterwegs waren, gingen allesamt ziemlich hektisch. Manche packten Dinge in große Taschen, andere schnitzten Bögen und Pfeile und wieder anderen nähten irgendetwas aus Fell zusammen. Keiner schien zu merken, dass ich wach geworden war.
„Amila!" Als ich ein raues Zischen hörte, fuhr mein Kopf nach rechts. Ich hätte fast aufgeschrien, weil ich so erleichtert war, Erl zu sehen. Er stand da und sah besorgt auf mich herab, in seiner Hand eine Schale mit Wasser.
„Erl!" Ich keuchte, als meine Rippe schmerzte. „Erl, du musst mir helfen. Wenn Rofus..."
„Ich kann dich nicht befreien, Amila." Er blickte mich ernst an und hielt mir die Wasserschale an den Mund, doch ich zuckte mit dem Kopf weg.
„Wieso nicht? Wieso bist du sonst hergekommen? Rofus wollte mich erwürgen, Erl!"
„Ich kann nicht, Amila! Wenn ich dich jetzt befreie, wird Rofus es merken. Alles hier ist in Vorbereitung, um heute Abend zum Drei-Mondes-Treffen zu wandern. Du bist im Rabenclan-Lager, verdammt noch mal, unsere Wälle sind höher als die aller anderen Clans." Erst, als er das sagte, vielen mir die zwei-manneshohen Wälle aus Fichtenstämmen auf, die einen engen Kreis um das Lager bildeten. Mir stand der Mund offen, als ich sie sah.
„Das ist eine Grube, Amila", zischte Erl. „Deshalb konnten wir den Wall so hoch bauen. Du wirst nur durch eines der Eingangslöcher kommen und die sind bewacht. Einer von Rofus' Jägern wird uns beobachten, also tu nichts Unüberlegtes."
„Aber ich muss weg!" Er schien nicht zu verstehen. „Rofus meinte, ich würde vor den Rat gebracht werden. Er will mir anhängen, ich hätte in der Schlucht versucht, ihn umzubringen!"
„Das habe ich befürchtet", gab Erl zu.
„Aber wenn er mir anhängt, dass ich versucht habe, zwei Menschen umzubringen – was dann?"
Zwei?" Erls Augenbrauen schossen nach oben, als er meine Worte hörten. Ich sah beschämt zu Boden, doch da hakte er schon nach: „Bei den Geistern, was hast du getan, Amila?"
„Ich...ich habe Calmus angeschossen, einen Jäger des Clans", gab ich zerknirscht zu. „Aber nur, um meinen Bruder zu retten, ich schwör's – Calmus ist nicht ernsthaft verletzt."
„Sie wollten deinen Bruder töten? Das wäre Mord, Amila, das..."
„Es ist nicht so, wie du denkst, Erl", unterbrach ich ihn. „Mein Bruder ist kein Mensch, genauso wenig, wie meine Ziehmutter es war." Als er die Stirn runzelte, fuhr ich fort: „Beide sind Bären. Sie haben mich umsorgt und ich musste sie verlassen, um hier leben zu können."
Erl schwieg und starrte nur in die Wasserschale, die er in den Händen hielt. Als würde er darin etwas anderes sehen können als Wasser.
„Du darfst dir keine Fehler erlauben." Er redete nicht von den Bären, für ihn schien dieses Thema als abgeschlossen. „Wenn Rofus erzählt, dass du nicht nur Calmus, sondern auch ihn töten wolltest, wird es ein harter Prozess werden."
„Und was, wenn ich ihn verliere, Erl?" Innerlich kam Panik in mir auf.
„Mehrfache Mörder werden von einem ausgebildeten Schützen erschossen", sprach Erl leise. „Andere wiederrum, die den Tod nicht verdient haben, werden gezeichnet."
„Aber das können sie nicht tun", hauchte ich, im Wissen, dass sie es sehr wohl konnten. Erl schwieg, dann legte er mir die Wasserschale erneut an die Lippen. Beim Gedanken an meine ausgetrocknete Kehle nahm ich wiederwillig einen Schluck, trank dann aber die ganze Schale. Mein Magen knurrte, doch Erl schüttelte als Antwort darauf den Kopf.
„Wasser muss Rofus dir geben, aber er würde dir nur so viel zu Essen geben, wie du brauchst, um nicht zu verhungern." Erl biss sich auf die Unterlippe. „Früher war er einfach ehrgeizig, doch dieses Verhalten ist...gestört. Er ist wie ein anderer Mensch, seit du aufgetaucht bist. Sein Geister-Fanatismus, den er an den Tag legt...und dann dieser irre Glauben, dass die Gesetze das einzige sind, was zählt..."
„Er hält sicher nur etwas von Regeln, wenn sie meinen Tod bedeuten", keifte ich. Erl blickte geistesabwesend auf die Wälle. Ich fragte mich insgeheim, ob er auch in so einer Wohnkuppel lebte. Dann allerdings merkte ich, wie sich die Stimmung veränderte. Die Menschen hörten auf, zu arbeiten, alle Blicke wanderten zu den Wällen. Ein paar Wachen tauchten auf den zwei-manneshohen Wänden und deuteten ein mir unbekanntes Zeichen. Und dann sah ich, wie sie ins Lager kamen.
Rofus war der erste, der darauf reagierte. Ich wusste nicht, wo er zuvor gewesen war, doch er stand urplötzlich in der Mitte des Lagers, hinter ihm Hibikue, die beiden Brüder und noch zwei Männer. Er fixierte Tarpas mit einem Blick, der Fliegen an der Wand festnageln konnte. Dann zischte er ein paar Worte, doch so laut, dass jeder sie hörte.
„Na, sie mal einer an. Ist ja schön, dass du uns einen Besuch abstattest, Tarpas." Als Rofus die fünf Menschen hinter Tarpas erblickte, grinste er. „Sogar mehr Besuch, als ich erwartet hatte." Bei Tarpas' Anblick wurde mir ganz warm ums Herz und am liebsten hätte ich nach ihm geschrien, doch ich hielt mich zurück. Als sein Blick den meinen traf, schnellte er zu Rofus herum, als würde er ihn gleich anspringen.
„Was hat das zu bedeuten, Rofus? Bist du auf Krieg aus?"
„Du denn?", gab Rofus mit zusammengekniffenen Augen zurück. „Hast du nicht gewusst, dass dieses Mädchen schon in der Schlucht versucht hat, mich umzubringen? Auf meinem eigenen Terrain? Und denkst du, es war wirklich ein Versehen, als sie deinen Jäger angeschossen hat? Um ihr Bärenvieh zu retten?"
„Mein Bild mache ich mir selbst", zischte Tarpas. „Vielleicht solltest du dich nicht in die Angelegenheiten meines Clans einmischen und dich um dich selbst kümmern – wo du doch versucht hast, ein Kind zu erwürgen." Niemand sagte etwas, doch ich spürte, wie schnell die Anspannung der Menschen stieg und fast greifbar wurde. Ich schauderte und ein Zittern überlief mich. Tarpas würde mich mitnehmen, er würde...
„Wie kannst du es wagen, Tarpas", zischte Rofus. „Du weißt ja nicht einmal, was in deinem Clan geschieht. Ich würde wetten, das dein kleines Rotschopf-Mädchen dir nicht..."
„Fay? Oh, ich weiß sehr wohl, was sie getan hat. Dass du nun auch Kinder ausnutzt, ist mir allerdings neu." Tarpas Mimik verfinsterte sich. „Ich denke, es ist klar, weshalb ich gekommen bin", fuhr er fort. „Gib sie frei, Rofus. Du hast kein Recht dazu, sie hier gefangen zu halten."
Rofus kam ganz gelassen auf ihn zu, so nah, dass er ihn berühren konnte. Ein Grinsen lag auf seinen Lippen. „Mir ist tatsächlich klar, weshalb du gekommen bist. Aber – wie immer – denkt ein Rabe weiter als ein Dachs. Denn du müsstest bemerkt haben, welches Tattoo sie trägt und du müsstest doch wissen, dass sie vom Rat nicht anerkannt wurde. Also ist sie, genau genommen, ein Mitglied meines Clans. Und deshalb habe ich Recht und nicht du."
Ich wünschte, es wäre nicht wahr. Vom ganzen Herzen hoffte ich, dass er einfach log. Doch dann sah ich Tarpas' Kiefermuskeln, die angespannt hervortraten, und seine geballten Fäuste. Rofus hat Recht, verstand ich.
„Oh, keine Sorge, Tarpas. Ein Fehlschlag ist keinesfalls schlimm." Als Rofus eine Bewegung in Richtung des Walles machte, konnte ich die Wut in Tarpas Augen aufblitzen sehen. „Also kannst du nun wieder gehen. Wir sehen uns am Drei-Mondes-Treffen – in friedlicher Absicht, gedenke ich jedenfalls."
Tarpas und Rofus standen einige Augenblicke noch unverändert da und fixierten sich gegenseitig mit wütenden Blicken. Mich hätte es nicht überrascht, wenn sie aufeinander losgegangen wären. Nein, ich wünschte es mir sogar. Tarpas war nicht nur kräftiger, sondern auch ein kleines Stück größer als Rofus. Sicherlich hätte der Rabenclan-Anführer dabei die Schläge abbekommen, die er verdiente. Doch nichts von alledem geschah.
„Gut", zischte Tarpas so leise, dass ich es kaum hörte. Dann gab er seiner Truppe ein Zeichen und verließ das Lager so abrupt, wie er gekommen war. Er sah sich nicht einmal zu mir um.
„Nein!" Ich stemmte mich gegen die Fesseln, doch es war vergeblich. „Nein! Nein, komm zurück! Komm zurück!"
Es half nichts. Die Blicke der Rabenclan-Menschen legten sich auf mich und Rofus fauchte mich mit zusammengebissenen Zähnen an, ruhig zu sein, doch ich hörte nicht auf. Hörte nicht auf zu schreien.

Als wir am Abend aufbrachen, schmerzten meine Hände. Die Fesseln waren viel zu eng und schnitten mir ins Fleisch wie Klingen. Wenigstens durfte ich laufen, denn ich hätte es sehr demütigend gefunden, wenn man mich tragen musste. Ein Seil verband meine gefesselten Hände mit Rofus, der mich höchstpersönlich führte. Er ließ dabei keine Gelegenheit aus, um mir einen schmerzhaften Ruck mit dem Seil zu verpassen.
Wir verließen das Lager und traten auf einen ebenen Trampelpfad, der recht breit war. Anscheinend führte dieser durch viele Territorien. Ich schnappte seinen Namen auf – „Wanderpfad" – und konnte in Erfahrung bringen, dass er für alle Clans zugänglich war. Mehr wollte ich gar nicht wissen, denn ich fand es demütigend, in meiner Lage jetzt noch Fragen zu stellen.
Am seltsamsten an der ganzen Wanderung waren die drei riesigen Elche, die langsam am Ende der Menschenschlange trotteten. Ihr braunes Fell war stumpf, die Tiere aber gut genährt und aufmerksam. Ihre Köpfe waren in ein Geschirr aus Lederriemen gequetscht und an einem Nasenring, den sie alle trugen, hing eine Schnur. Mit dieser wurden sie geführt. Auf ihren Rücken lagerte allerlei Zeugs, meist jedoch Fleisch, Fell, Horn, Beutel mit Kräutern und andere Dinge, die ich nicht identifizieren konnte.
Ein schmerzhafter Ruck an meinen Fesseln ließ mich aufstöhnen. Als ich jedoch diesen genugtuenden Blick im Gesicht des Rabenclan-Anführers entdeckte, biss ich die Zähne zusammen.
Der Wanderpfad war Anfangs noch relativ breit, dann aber wurden die Fichtenstämme dichter und der Pfad so schmal, dass man hintereinander gehen musste. Ich bemühte mich, Rofus zu folgen, um nicht wieder einen Ruck abzubekommen. Da spürte ich, wie sich die Stimmung plötzlich änderte. Es war wie damals, als ich zum ersten Mal ein Clan-Territorium betreten hatte – und plötzlich wusste ich instinktiv, dass das Terrain des Rabenclans hier endete. Ohne eine Grenze gesehen zu haben – ich hatte sie einfach gespürt – war ich mir dessen bewusst.
Es dauerte nicht lange, da trafen wir auf einen anderen Clan. Es waren freundliche, offene Männer und Frauen, wobei letztere deutlich häufiger vertreten waren. Ihre grünen Augen waren wunderschön – genau wie die meiner Mutter es einmal gewesen sein mussten – und ihre Gesichter fein geschnitzt, allerdings wirkten sie sehr robust. In ihrer Mitte zogen vier Rentiere, deren grau-braune Buckel mit Gepäck beladen waren. Als ich ihre Tattoos sah, war ich mir dann absolut sicher, dass es sich um den Eschenclan handelte.
Die Eschenclan-Menschen redeten viel mit denen des Rabenclans, doch trotzdem wirkten die Raben eher steif. Niemand ließ einen Fremden an mich heran, obwohl mich ein Gespräch jetzt nicht sonderlich interessierte.
Wir gingen lange. Dessen wurde ich mir erst bewusst, als meine Beine anfingen, wehzutun. Ich stolperte und stöhnte, als ich auf dem Boden prallte. Rofus zerrte mich grob auf die Beine.
„Hör auf, dich wie ein Idiot zu benehmen. Ansonsten überlasse ich dich liebend gern gefesselt den Hufen meiner Elche", zischte er mir ins Ohr und ich hätte ihm das ohne weiteres auch zugetraut.
Als sich uns ein dritter Clan anschloss – ihre Fisch-Tattoos deuteten einwandfrei darauf hin, dass es sich um den Lachsclan handeln musste – wurde es schon dunkel. Im düsteren Wald konnte ich die Augenfarbe der Menschen kaum ausmachen, doch es musste sich um ein blasses grau oder sonstiges handeln. Den Dachsclan trafen wir nicht, doch darum war ich sogar froh. Ich hätte es nicht ausgehalten, Kipsuni, Tarpas und all die anderen zu sehen, ohne zu ihnen zu dürfen.
Und dann waren wir da. Zuerst spürte ich es, dann hörte ich die dumpfen Trommelschläge und die Musik und plötzlich erhob sich ein riesiges Gebilde vor mir, über dessen Felsen sich die roten Schemen von Flammen zogen. Mir blieb der Mund offen stehen, als ich auf einen riesigen Steinkreis starrte. Das Mondlicht beschien die zackigen Steine und ihre Querbalken und tausende von einmeißelten Figuren wurden sichtbar. Alles Tiere – genau wie auf dem Ahnenfelsen des Dachsclans. In der Mitte des Steinkreises brannte ein Feuer, das mindestens genauso hoch war, und in seiner Mitte konnte ich einen rußgeschwärzten Stein ausmachen. Plötzlich begannen die Menschen um mich herum, schrille Freudenschreie auszustoßen. Manche begannen zu rennen und die Tiere trippelten nervös, als sich alle in Bewegung setzten. Dann hallten plötzlich Stimmen über die Menge.
„Der Eschenclan ist am Faroth eingetroffen!", rief eine grauhaarige Frau mit klarer Stimme.
„Der Lachsclan ist am Faroth eingetroffen!", fuhr ein junger Mann mit kastanienbraunem Haar fort. Dann schrie Rofus neben mir, so eindrucksvoll, dass mir ein Schauder über den Rücken lief.
„Der Rabenclan ist am Faroth eingetroffen!"


AMILA  - Das BärenmädchenWhere stories live. Discover now