◊ 6. Kapitel ◊

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„Was ist passiert, Fay?" Kipsunis Stimme war rau, als sie zu dem Mädchen rannte und sie stützte, als sie drohte, umzukippen. In die Menschenmenge kam Leben, als das Mädchen, dass Kipsuni Fay genannt hatte, stammelte: „Er wollte...er wollte mich doch nur mitnehmen." Ich konnte von hier aus sehen, wie ihr eine feuchte Träne über die sommersprossige Wange rannte. Ihre Augen waren glasig und rot und sie zitterte und bebte immer noch unkontrolliert. Jetzt kamen ein paar Frauen und ein junger Mann ganz nah zu ihr, doch niemand wagte es, Kipsuni zu unterbrechen.
„Wo ist Lorus, Fay?", redete Kispuni laut und eindringlich auf sie ein. Das Mädchen kam gar nicht dazu, zu antworten. Aus dem Felsunterschlupf kam ein Mann gestürmt. Er trug ein Ledergewand und einen Umhang. Sein schütteres, graues Haar war an den Schläfen rasiert und oben zu einem kleinen, dünnen Zopf gebunden worden. Seine blauen Augen blitzten, als er Fay und Kipsuni sah.
Kipsuni sah still zu ihm auf, als sie ihn bemerkte, jedoch sagte sie nichts.
„Fay, wenn du dich jetzt zusammenreißt, können wir ihm helfen", sagte sie ganz ruhig. Fay schluchzte.
„E-es ging alles so schnell", wimmerte sie. „Ich wollte nur mit...nur mitgehen..." Stille.
„Wo ist er?"
„Wir...wollten in den Wald." Nun sprach sie ein bisschen fester. „Zu dem alten Baum mit dem...mit dem Bienenstock." Wieder ein Schluchzen. „Dann war er...er da und Lorus wollte...wollte mich beschützen. Und dann...bitte helft ihm...!"
„Tarpas!" Kipsuni sah den Mann mit dem Zopf energisch an. „Schick ein paar Männer in den Wald, ich denke, Lorus ist verletzt. Zur alte Eiche."
Auf ein Nicken des Anführers rannten sofort fünf Männer und drei Frauen aus dem Lager, zwei junge Mädchen haften Fay dabei, sich auf den Beinen zu halten.
„Geht schon", blaffte Fay mit tränenverschmiertem Gesicht, doch sie zitterte dabei noch mehr.
„Fay, du musst mir jetzt sagen, was passiert ist." Kipsuni war ruhig und eindringlich, doch ich wusste, dass sie Fay wahrscheinlich gleich an den Schultern packen und durchschütteln würde, wenn diese keine Antwort gab.
Fay schniefte, dann fasste sie sich. „Wir waren bei der alten Eiche mit dem Bienenstock", widerholte sie, „und da war der...da war der..." Sie stoppte kurz. „Da war ein junger Grizzly."
Fay hätte mich genauso gut mit dem Kopf voran in einen eiskalten Bach tauchen können, denn das Ergebnis wäre das gleiche. Ich stockte. Meine Gedanken rasten und ich spürte, wie mein ganzer Körper bebte. Robby, jagte der Gedanke durch meinen Kopf, immer und immer wieder. Er war hier.
„Und dann...", sprach Fay leise weiter, „dann hat er uns gesehen und...und hat sich auf die Hinterbeine gestellt. Und dann...dann hat Lorus ihn mit Steinen beworfen, weil hinter mir ein Gestrüpp war und ich...und ich nicht wegkonnte. Aber da ist diese Felswand hinter der alten Eiche, die...die...die so nass ist. Da waren die Steine so locker dass...dass nur mehr ein alter Baum und die Wurzeln sie...sie gehalten haben. Er hing schon so über dem Hang und Lorus ist über ihn geklettert, weil der Grizzly...weil der Grizzly ihn dort hin gedrängt hat. Und dann ist auf einmal der Baum entwurzelt und runter und Lorus...und die Steine..." Sie sprach nicht weiter, aber jeder wusste, was passiert war. Nach einem Augenblick des Schweigens schien sich wieder gefasst zu haben. „Der Baum ist locker geworden, weil er nur mehr halb im Hang verwachsen war, und mit ihm sind die Felsbrocken...die Felsbrocken sind alle runter und mit ihnen auch Lorus und der...Bär." Sie schluchzte wieder hemmungslos. Ich hätte am liebsten geschrien, hielt mich aber gerade noch zurück. Robby durfte einfach nichts passiert sein. Da sprach Fay schon weiter: „Der Bär ist...ist noch da oben gewesen und...und ich hatte Angst...Es ist alles meine Schuld, bitte, bitte helft ihm."
„Das werden wir", versprach Kipsuni schnell. „Danke, Fay. Weißt du, ob er verletzt ist? Das muss ich jetzt wissen."
„Ich...ich bin weggelaufen!", schrie Fay. „Ich weiß es doch nicht, ob er noch lebt! Der Bär war da und...und ich hatte Angst und wollte Hilfe hohlen. Was, wenn er verletzt...verletzt ist? Ich will das nicht sehen!" Dann hatte sie ihn im Stich gelassen, wurde mir klar. Zum einen empfand ich Abscheu, zum anderen konnte ich mich kaum halten, um nicht sofort in den Wald zu stürmen. Ich wusste ja nicht einmal, wo dieser Baum war.
„Gut", rief Kipsuni, doch ich hörte sie kaum noch. Ich sah betäubt zu, wie Fay von ein paar Frauen unter die Fittiche genommen wurde und Kipsuni zu ihrer Höhle eilte, nur um ein paar Momente später mit einer Ledertasche wieder zu kommen. Ich war vergessen, niemand schien mich mehr zu bemerken. Das war meine Chance.
Ich huschte noch vor Kipsuni aus dem Lager. Vor dem Wall gab es mehrere Büsche, meist Haselnussstauden, und ich duckte mich schnell hinter einen von ihnen, um nicht von der Schamanin entdeckt zu werden.
Im Lager hatte der Geruch von Rauch, Holz und Essen geherrscht, hier allerdings drang aus allen Poren des Waldes der Geruch von Baumsaft, aromatisch riechender Erde und frischen Frühlingsblättern. Das rottende Laub am Boden war trocken und teils zerfallen und der Boden federte ganz anders als der, den es im Fichtenwald gegeben hatte. Am liebsten wäre ich jetzt einfach hier sitzen geblieben und hätte mich auf Beutezug begeben, doch ich konnte nicht. Ich musste unbedingt Kipsunis Spur folgen, wenn ich mehr über Robby herausfinden wollte. Was, wenn es nicht Robby ist?, dachte ich und ich wusste nicht einmal, ob ich das für gut oder schlecht halten sollte.
Menschen zu verfolgen war ganz anders, als wenn ich ein Tier verfolgen wollte. Die sonst so scharfsinnige Schamanin ignorierte nun alles um sich herum, jedes Geräusch und jeden Geruch – von den Menschen, die ihr folgten, ganz zu schweigen. Es war, als würde nichts anderes mehr existieren.
Ich hielt mich versteckt und folgte ihnen mit einigem Abstand, obwohl das wahrscheinlich gar nicht nötig gewesen wäre.
Die Eiche lag fast gänzlich unter Felsbrocken begraben, der morsche, rindenlose Stamm war zerstückelt und zerborsten. Die blattlosen Äste wirkten wie kahle Finger, die nach mir greifen wollten. Fast glaubte ich, das Beben des Erdrutsches noch zu spüren, obwohl dieses Vibrieren längst abgeebbt war. Ein Bär war nicht zu sehen, alles wirkte verlassen. Die kleine Felswand – oder besser Felsvorsprung – war komplett nach unten gerutscht. Die haltbietenden Wurzeln des toten Baums lagen verdreht und zersplittert darin wie bleiche Knochenreste.
Ich sah Kipsuni, wie sie half, ein paar Steine vom Baum wegzurücken, doch mir war klar, dass ich nicht viel tun konnte. Wahrscheinlich war mir nicht einmal erlaubt, hier draußen zu sein.
Ich erkannte den Ort, den Fay beschrieben hatte, und wusste, wo der Bär gestanden haben musste. Es war eine kleine Felswand, einen Sturz allein konnte man überleben. Daneben sah ich, wie die Umgebung ein wenig felsiger wurde und dann, irgendwo hinter den Bäumen, verschwand. Vielleicht gab es dort ja eine Schlucht oder einen Graben.
Während all die anderen an den Trümmern herumwuselten, suchte ich nach einem Weg, die Felswand hinaufzukommen. Es gab einige kleine, grasbewachsene Ebenen, über die ich leichter hinaufkam. Der Fels roch mineralisch und war kühl. Ein paar kleine Felsen und Stauden boten mir einigermaßen Schutz, aber den hätte ich eigentlich nicht gebraucht. Die Aufmerksamkeit der Menschen gehörte völlig den Trümmern und dem Verletzten.
Von oben war die Felswand dann doch höher, als sie ausgesehen hatte. Ich wagte mich gar nicht bis zum Rand. Dort, wo der alte Baum entwurzelt war, waren Felsen und Erde aufgerissen, als hätte man dem Boden dort eine Wunde zugefügt. In der aufgescharrten Erde erkannte ich Bärenspuren.
Ich ließ mich auf die Knie fallen und fuhr sachte mit den Fingerspitzen über die Spur. Die Abdrücke waren frisch. Die detaillierten Abzeichnungen der Krallen und der Sohle waren eindeutig die eines jungen Bären – eindeutig Robbys. Bei dem Gedanken, dass er da hinunter stürzen hätte können, wurde mir schlecht.
Dann begann das, was ich auch an der Jagd so liebte: die Verfolgung. Es war dann immer so, als wäre ich ein anderer Mensch. Ich schloss kurz die Augen und konzentrierte mich darauf, die Welt anders zu sehen. Nicht einen Busch, sondern abgeknickte Zweige und eingerissene Blätter, nicht graue Felsen, sondern weißliche Kratzspuren, die sich in den Stein geritzt hatten, und nicht einfach Brombeerranken, sondern Dornen, an denen Fell klebte.
Die Jagd war mein Element, und obwohl es kein Beutetier war, dass ich suchte, war es für mich fast der gleiche Spaß.
Ich ging die Felswand an der Kante entlang, bis sie abflachte und ich sie problemlos – natürlich den Spuren folgend – hinabklettern konnte. Ich ließ die Menschen hinter mir und zwängte mich durch Gebüsch und durch Baumgewirr hindurch, bis das alles plötzlich aufhörte. Ein paar Büsche säumten noch die Felskanten, dann viel der Boden in eine steile Schlucht ab. Ein paar Felsen boten genug Halt, um hinunterzukommen, aber hätte Robby das wirklich gewagt? Andererseits war er verschreckt gewesen, und einen anderen Weg schien es nicht zu geben.
Ich hasse Schluchten, dachte ich bei mir, als ich schon die Felskante gefasst hatte und mich vorsichtig auf einen schmalen Sims fallen ließ. Kleine Steinchen kullerten in die Tiefe und ich zwang mich, mein wild schlagendes Herz zu beruhigen. Solange ich Fels unter den Füßen hatte, würde mir nichts passieren.
Der nächste Sims war schon weiter weg, aber dafür breiter. Ein gewagte Sprung in die Tiefe ließ mich sicher auf ihm aufkommen. Der Rest der Wand wurde allmählich flacher, sodass ich am Ende bis auf den Boden der Schlucht rutschen konnte.
Der Boden bestand aus Erde und Fels, war allerdings fast gänzlich von kleinen grauen Kieseln bedeckt. Die Wände der Schlucht waren von Büschen gesäumt, die kleine, verschrumpelte Beeren trugen, die wahrscheinlich noch aus dem letzten Zyklus stammten.
Robbys Spur war weg. Einfach verschwunden, fast so, als hätte er sich ins Nichts aufgelöst. Ich wusste, dass er hier gewesen war, aber ich konnte seine Spuren nicht mehr finden. Der Fels und die Kiesel ließen das nicht zu. Er konnte hier überall sein, wahrscheinlich hatte er die Schlucht sogar verlassen.
„Du weißt, dass das Rabenclan-Terrain ist, oder?", ertönte da eine tiefe Stimme hinter mir. Als ich mit angespannten Muskeln herumfuhr, stand da ein Mann. Er war noch recht jung, jedoch hatte sein dunkelbraunes Haar schon ein paar graue Stellen. Sein Gesicht war kantig und das Haar stand an den Schläfen etwas vom Kopf ab. In der Hand hielt er ein Kaninchen, dessen grau-brauner Pelz zerzaust war. Als ich ihn musterte, wurde mir klar, von welchem Clan er kam.
„Ich...ich...", stammelte ich, doch er unterbrach mich.
„Man sollte meinen, dass du..." Dann verstummte er plötzlich und ich merkte, wie sich sein ganzer Körper verkrampfte. Er musterte mich eindringlich. Als mir klar wurde, dass er mir genauso entsetzt in die Augen sah wie Rofus, sah ich schnell auf den Boden. Natürlich half das nichts.
„Geh!" Er wollte meine Schulter packen und mir einen Stoß geben, doch ich sprang instinktiv so schnell zurück, dass er etwas taumelte.
„Verschwinde!", widerholte der Rabenclan-Mann. „Jetzt, bevor ich es mir anders überlege!"
Kurz verharrte ich noch und starrte ihn irritiert an, dann ergriff ich meine Chance, fuhr ich herum und rannte zu der Felswand, über die ich gekommen war. Ich kletterte sie in Rekordzeit hoch und hörte hinter mir nur das Prasseln der Steine, die meine Füße lostraten. Ich wollte mich gar nicht umschauen, denn ich hatte immer noch das Gefühl, dass sich die Augen des Mannes in meinen Rücken bohrten. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich eigentlich gar nichts wusste. Dieser Wald war mir fremd. Wie hatte ich einfach in die Schlucht gehen können, ohne zu prüfen, ob jemand in der Nähe war? Ich hätte den Mann eigentlich bemerken müssen, wenn ich mich nicht so auf die Spurensuche versteift hätte.

Als ich mich durch den Eingang des Lagers quetschen wollte, spürte ich, dass etwas anders war. Es war seltsam ruhig und erdrückend und eine Nachricht hing wie Qualm über dem Lager. Die Menschen arbeiteten zwar, aber die Stimmung war schlecht und bedrückend. Ich wusste schon, was passiert war, bevor es eine junge Frau neben mir aussprach: Lorus war tot.

Juhu! Hab mich endlich mal dazu aufgerafft, die ganze lange Dokument-Planung von "Amila" abzutippen. Aktuell sind es rund 17 Kapitel, es kann aber sein, dass ich ein oder zwei splitte. 



AMILA  - Das BärenmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt