8.Kapitel

231 15 16
                                    


Es war warm, als ich aufwachte, und die Luft roch frisch und süßlich. Feines Gras kitzelte meine Wangen und ich roch den süßlichen Frühlings-Geruch, der von ihm ausging. Eine leichte Brise streifte durch mein Haar und ließ die schwarzen Strähnen umherwirbeln. Etwas benommen öffnete ich die Augen und starrte auf den Grasteppich, auf dem ich lag. Irgendetwas war anders, seltsam. In meiner Höhle gab es kein Gras.
Das Plätschern von Wasser drang in meine Ohren und ich schaute zum ersten Mal auf. Beinahe hätte ich geschrien. Da waren keine Felswände, keine Fay, die sich in den Schlaf weinte, kein schwaches Mondlicht, dass von draußen in die gemütliche Höhle sickerte. Ein warmes Licht und ein riesiger Baum waren zu sehen. Es war eine riesige Trauerweide mit rissiger Rinde, einem gewaltigen Stamm und einer Kuppel aus Weidenästen, die alles um mich herum abschirmten. Der Baum stand auf einem Grashügel, der von Wasser umgeben war. Die Flüssigkeit war irgendwie komisch – nicht einfach klar, sodass man den Grund sehen konnte, es schimmerte blau-grün und ich konnte grün leuchtende Wasserpflanzen sehen, die etwa so groß waren wie das Gras, das auf dem Hügel wuchs. Ich selbst lag auf einer Ebene aus Gras und Erde, allerdings war mein Hügel erheblich kleiner als der, auf dem die Weide wuchs.
Ich richtete mich vorsichtig auf und strich mir das Haar aus dem Gesicht. Als ich meinen Kopf in den Nacken legte, sah ich das große grüne Zelt aus Blättern, das nur wenig Licht hindurchfallen ließ.
„Hallo, Amila."
Ich erschrak so sehr, dass ich nach hinten taumelte und das Gleichgewicht verlor. Ich stürzte und ruderte mit den Armen, aber ich konnte mein Gleichgewicht nicht wiederfinden. Mit einem leisen Platschen kullerte ich vom Hügel und fiel ins Wasser. Normalerweise war Wasser nur kühl und nass, aber dieses war ganz anders. Es war, als würde eine geballte Ladung Energie durch meinen Körper schießen. Mein Herz schlug wie wild und ich bäumte mich auf, diesem Strom aus Energie gänzlich ausgeliefert. Es tat nicht weh, nein, es war ein wundervolles Gefühl. Irgendwie benebelnd, es ließ mich meine Muskeln lockern und...
Eine Hand packte meinen Arm und zog mich mit einem Ruck zurück auf den Grashügel. Als der Energiestrang von mir abriss, keuchte ich auf. Eine Welle Schmerzes schoss durch meinen Körper, als wäre mir gerade ein Körperteil abgerissen worden.
„Das solltest du nicht wieder tun", sagte die hohe Stimme abermals und ich blickte auf. Ich war erstaunt, als ich nur ein kleines Mädchen sah. Es mochte um die drei oder vier Zyklen alt sein, hatte dunkles Haar und ein schmales Gesicht mit einem kantigen Kiefer. Sie legte die Stirn in Falten und als ich bemerkte, wie verblüfft ich sie angestarrt hatte, schaute ich schnell weg und richtete mich auf wackeligen Beinen auf. Es war mir auf einmal peinlich, dass sie mir helfen musste. Ich sah mich um, konnte aber durch den dicken Vorhang aus Weidenblätter nichts erkennen.
„Wo...wo bin ich hier?", brachte ich keuchend heraus und fuhr mir mit den Findern in die Haare. „Ich war doch...wo ist die Höhle...wer bist du denn bitte...?" Ich war so verschreckt und verwirrt, dass ich nicht weitersprechen konnte. Ich war einfach still und sah ungläubig zu, wie das Mädchen leicht grinste.
„Ich bin Kimi", sagte es da und ihre Augen blitzten – anscheinend fand sie mich amüsant. Dabei war sie ein Kleinkind!
„Kimi?", keuchte ich und sah sie verständnislos an.
„Ist nicht wichtig", erwiderte sie schulterzuckend.
„Aber wo bin ich hier?"
„Es ist auch nicht wichtig, wo du bist." Kimi sah mich tadelnd an, als hätte ich gerade einen Fehler gemacht. Ich sah mich hektisch um, doch der Weidenvorhang verbot mir den Blick auf das, was um mich herum sein musste. Als ich Kimi musterte, fiel mir auf, dass sie bis zu den Knien in diesem Wasser stand, dass mich zuvor so festgehalten hatte. Ich sah wieder zu den Vorhängen aus Weidenblättern. Wenn ich es schaffen könnte, bis dort hin zu kommen, dann...
„Es wäre unklug, das Wasser zu berühren." Kimi sah mich tadelnd an. „Ich dachte, du hättest damit schon Bekanntschaft gemacht."
„Du kannst darin stehen!", protestierte ich und Kimi zuckte wieder mit den Schultern.
„Ich kann es, du kannst es nicht."
„Warum leuchtet es so?"
„Das sind die Sprösslinge der Weide."
„Der Weide?" Ich starrte zu dem großen Baum auf. „Die wachsen unter Wasser?"
„Dieses Wasser ist für sie ein Lebenselixier", antwortete Kimi.
„Das ist kein normales Wasser?", fragte ich ganz schön blöd.
„Hast du geglaubt, es wäre normales Wasser, nach dem, was dir darin passiert ist?" Kimi sah mich ein bisschen tadelnd an und ich fühlte mich auf einmal klein. Im nächsten Moment war mir das schon peinlich, als Kimi grinste.
„Werden diese Sprösslinge nicht zerstört, wenn man auf sie tritt?", fragte ich vorsichtig und lugte auf die grünlichen Pflänzchen, die im Wasser trieben.
„Ich berühre sie nicht", erklärte Kimi. „Dieses Wasser ist eine Grenze – erst, wenn die Weidensprösslinge die Oberfläche durchbrechen, werden sie greifbar und fest und können zerstört werden." Sie ging ein paar Schritte auf eine Pflanze zu, die halb aus dem Wasser ragte. „Sieh, diesen kleinen Kerl hier. Er ist so dürr, aber keinesfalls zerbrechlich." Kurz machte sie eine Pause. „Naja, ich glaube nicht, dass du es verstehst. Sie werden eben erst so richtig echt, wenn sie das schützende Wasser verlassen."
Sie ist verrückt, hallte der Satz durch meinen Kopf. Dieses Mädchen war absolut verrückt.
„Dieses Wasser ist anders, als es scheint. Es ist ein..." Kimi kam nicht dazu, den Satz weiterzusprechen. Ein Windstoß fegte uns beiden durch die Haare und wirbelte die Weidenäste durcheinander. Und auf einmal öffnete sich ein Spalt direkt neben mir, sodass gleißendes Licht hindurchsickerte. Ich taumelte ein bisschen nach hinten und wäre fast erneut ins Wasser gefallen, doch ich hielt mein Gleichgewicht. Als meine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, stand mir der Mund offen. Menschen – viele Menschen, alle anderer Haar- und Augenfarbe. Kleine Kinder spielten mit ihren Müttern und tollten herum, alte Männer und Frauen gingen leichtfüßig durch das Wasser, Weiden wogten im Wind. Ich verspürte den unbeschreiblichen Drang, dorthin zu rennen und mich ihnen anzuschließen.
Plötzlich sprang ein Mann in die Luft, krümmte sich und steuerte dabei kopfvoran auf die dünne Wasseroberfläche zu, wo er zuvor noch gestanden hatte. Mein Atem stockte, als ich das sah, und mir entfuhr beinahe ein kleiner Schrei – und der Mann verschwand beinahe lautlos unter der Wasseroberfläche. Wie...wie hat er das gemacht...?
„Amila!" Im selben Moment, in der Kimi mich zurückzog, fiel der Vorhang aus Weidenästen zu. Mir stockte der Atem, als ich bemerkte, wie nah ich dem Wasserrand gekommen war. Kimi stand einfach nur da.
„Das ist nichts, was eine Sterbliche sehen sollte", murmelte sie.
„Eine Sterbliche?", keuchte ich und sah sie verständnislos an. Und dann dämmerte es mir. Sie konnte das Wasser berühren, ich nicht. Der Mann war im nur knöcheltiefen Wasser verschwunden. Die Sprösslinge der Weide, die erst greifbar wurden, wenn sie an die Oberfläche traten.
„Bist du ein Geist?", keuchte ich und sah sie entsetzt an.
„Ja, ich bin ein Geist. Schön, dass du es kapiert hast", meinte Kimi pikiert. „Die Weide...", murmelte sie kopfschüttelnd, „die hat ihren eigenen Sinn. Ich weiß nicht, wieso sie dir das Geisterreich gezeigt hat, aber sie hat ihre Gründe."
„Bin ich etwa tot?", schrie ich fast, doch Kimi legte mir schnell einen Finger auf den Mund.
„Nein, du bist nicht tot, du Dummerchen!", kicherte sie. „Ich habe dich im Traum aufgesucht."
„Das ist alles nicht echt?"
„Echt ist es schon, aber nicht so, wie es zum Beispiel deine Höhle ist. Du kannst dich nicht verletzten, aber es ist kein Hirngespinst."
„Wie hast du das gemacht? Hat das mit dem Baum zu tun?" Ich deutete auf die Weide, doch Kimi schüttelte den Kopf. „Nein, ich kann dich aufsuchen, wenn es wirklich wichtig ist, und wenn du von selbst nicht auf den richtigen Weg kommst."
„Aber ich...ich bin kein Clanmensch, ich habe noch nie an die Geister geglaubt!"
„Na, entschieden hast du dich noch nicht. Wenn du dich fest dafür entscheidest, dass es keine Geister gibt, dann können wir Geister dich nicht im Traum besuchen. Wenn du unentschlossen bist, geht das schon. Und seid du das Totem von Fays Bruder im Feuer gesehen hast, denke ich, weißt du selbst nicht mehr wirklich, was du glauben sollst."
„Aber wieso bin ich hier?", keuchte ich. „Wieso ist der Mann dort...wieso ist der verschwunden?"
„Du hast gesehen, wie er das Geisterreich verlassen hat", stellte Kimi fest. „Nun, ich hab dir ja erklärt, dass es kein normales Wasser ist. Erst, wenn ein Sprössling die Oberfläche durchbricht, ist er hier greifbar und real. Dasselbe gilt für mich und alle anderen Geister." Sie zeigte auf die Wasseroberfläche. „Ich bin nur hier, wenn mein Totem schläft."
„Und ansonsten bist du auf der Erde?"
„Ja. Mein Totem ist deshalb keineswegs leer – ich bin durch das Wasser mit ihm verbunden. Und nur, weil ich keine Sterbliche bin, kann ich hier im Wasser stehen – eben weil ich ein Geist bin. Musst du nicht verstehen. Die Energie ist für jemanden wie dich zu stark, die Sprösslinge können sie noch nicht halten."
Ich sagte gar nichts, sondern glotzte sie nur blöd an. Ich wollte das alles nicht glauben. Aber dann war der Hase im Feuer keine Einbildung gewesen. Gab es die Geister und die Totem also wirklich? Natürlich – oder auch nicht und du bist bloß verrückt geworden, dachte ich und schluckte. Verrückt, verrückt, verrückt.
„Aber wieso bin ich hier? Wieso hast du mich hergeholt?", stammelte ich leise.
„Weil ich dir etwas sagen muss."
„Was denn?"
„Ganz einfach", erklärte sie schulterzuckend. „Du musst dem Raben folgen, um ihn zu finden."
„Wie bitte?", keuchte ich und wartete auf eine Erklärung, doch Kimi schüttelte stur den Kopf. „Ich habe dir einen Hinweis gegeben – du darfst dich nicht länger hier aufhalten."
„Nicht?"
„Nein. Das ist nicht gut für dich, glaub mir." Kimi kam näher. „Folge dem Raben, um ihn zu finden." Dann, auf einmal, zog sie meinen Kopf zu sich hinunter und unsere Stirnen berührten sich. Mit einem gleißend hellen Lichtblitz verschwand alles.

Als ich aufwachte, war mein Schlaffell schweißnass. Mein ganzer Körper bebte, als wäre ich gerade quer durch den Fluss geschwommen, und ich hatte meinen eigenen Herzschlag im Ohr. Wie betäubt starrte ich auf Fays Schlaffell – sie schlief. Am Abend war ich eingeschlafen, als sie noch fast lautlos geweint hatte. Ich wusste, wie schwer das für sie sein musste, und es tat mir im Nachhinein leid, sie so angebrüllt zu haben.
Ich strampelte mich aus dem Schlaffell frei und betrachtete meine zitternden Hände. Es musste noch tief in der Nacht sein, denn von draußen drang nur das Licht der Sterne in die Höhle. Ich hatte noch immer Kimis Gesicht vor mir. Dann die Geister und der Mann, der verschwunden war. Und dieses Wasser mit den Sprösslingen... Du musst dem Raben folgen, um ihn zu finden. Verdammt, was war das denn für ein Hinweis?
Erst jetzt wurde mir bewusst, wie müde ich noch war. Am liebsten wäre ich sofort eingeschlafen. Aber ich konnte nicht – Gedanken wirbelten mir durch den Kopf. Wen musste ich finden? Wer war ‚der Rabe'? Wieso sollte ich ihm überhaupt folgen? Und wieso hatte mir Kimi nichts genaueres darüber erzählt?
Der Rabe...
Die Begegnung mit dem Rabenclan-Mann in der Schlucht kam mir in den Sinn, dann erinnerte ich mich an Rofus, wie er mich an den Baum gefesselt hatte, und dann diese zärtliche Berührung... Aber wieso sollte ich Rofus folgen? Und was sollte an diesem Mann in der Schlucht so besonders gewesen sein? Vielleicht die Tatsache, dass ich gehen durfte?

Tatata! Es hat so viel Spaß gemacht, das Geisterreich zu beschreiben! ^^ Ich hoffe, es ist gut geworden


AMILA  - Das BärenmädchenWhere stories live. Discover now