»Worauf wartest du dann noch?«, gab Iris zurück. »Wenn du noch länger wartest, verlässt dich vielleicht die Kraft. Du bist schließlich auch nicht mehr der Jüngste.«

Zanders Miene verfinsterte sich. »Du spielst ein gefährliches Spiel für jemanden, der auf meine Hilfe angewiesen ist«, grollte er und streckte sich nach einem der steinernen Gesimse, das als wellenförmiges Band über die Fassade wanderte. Kaum hatten seine suchenden Finger stabilen Halt gefunden, schwang er sich wie Maki, der Affe des königlichen Hofnarren, an die steile Hauswand. Nach kurzem Pendeln fanden auch seine Füße festen Stand auf einer der Fassaden-Verzierungen. Inzwischen schlug Iris das Herz bis zum Hals. Zander ließ es sich jedoch nicht nehmen, ihr zuzuzwinkern, was in ihr den Drang weckte, ihn auf der Stelle zu erwürgen. Doch natürlich war es schlauer, damit zu warten, bis er sie aus ihrer misslichen Lage befreit hatte.

Iris sah Zander nach, wie er sich von Gesims zu Mauerblende, von Pilaster zu Fenster-Verdachung schwang und schließlich aus ihrem Blickfeld verschwand, um an der Vorderseite des Gebäudes über den mächtigen Säulenvorbau zum Erdboden zu gelangen. 

Als die Anspannung nachließ, merkte sie, dass sie die Hand so fest in seine Weste gekrallt hatte, dass der Stoff bereits unschöne Druckspuren bekam. Eilig löste sie ihren Griff, strich das Material glatt und machte sich auf den Weg zur Treppe. So vollkommen allein kam ihr das versteckte Dachzimmer noch unheimlicher vor. Die Tierkadaver, die ihren Weg pflasterten, die schleimigen Überreste und kleinen Knochensplitter, beschworen Bilder aus ihrem Innern hervor, die sie lieber vergessen hätte.

Dementsprechend erleichtert war sie, als sie das aufgeräumte Labor erreichte, in dem sich Glasgefäße und Phiolen aufreihten, deren Inhalt eindeutig pflanzlicher Natur war. An diesem Ort konnte sie wieder freier atmen, auch wenn es ihr ganz und gar nicht gefiel, eingesperrt zu sein. Einige Minuten lang streifte sie durch das Zimmer, begutachtete die Regale und die bunten Flüssigkeiten, Wurzeln und Kräuter in den Gefäßen, dann lehnte sie sich gegen die Wand und pustete sich ungeduldig eine Locke aus der Stirn. Wieso ließ Zander so lange auf sich warten?

Die Stille im Innern des geheimen Labors verleitete ihren Kopf dazu, seinen aufdringlichen Gedanken freien Lauf zu lassen. Und das war eine gefährliche Sache. Schließlich gab es gewisse Dinge, an die sie lieber nicht denken wollte. Dass es Fehler gewesen war, nach Myr Ryba zu kommen, war noch die harmloseste Vorstellung, von der sie in solchen Momenten gequält wurde. Im Grunde fühlte sich ihre Zeit in der Hafenstadt wie eine Kette von Fehlentscheidungen an. Als gäbe es in ihrem Innern eine zweite Iris, die alles für ein Abenteuer tat und der ihr eigenes Leben vollkommen egal war. Eine Iris, die keine Vernunft kannte und die sich kein bisschen um ihren Ruf oder das Ansehen ihrer Familie scherte. Eine Iris, die drauf und dran war, sich in einen nicht-adeligen, nicht-wohlhabenden Unterhändler und Gusaren zu verlieben. Die andere Iris, die sehr vernünftig war und sich danach sehnte, in ihre Heimat zurückzukehren, wo es friedlich und sicher war, fand diese Entwicklung bedenklich. Äußerst bedenklich.

Iris' Blick wanderte zu der abgedeckten Futusfera. Der Impuls, das Seidentuch noch einmal zu berühren, wanderte durch ihre Glieder. Sie wusste, dass es besser war, ihm nicht nachzugeben. Die erste Iris wusste das. Die zweite dagegen...

Vorsichtig trat Iris näher an den Tisch. Sie hatte die volle Kontrolle über ihren Körper. Trotzdem fühlte es sich an, als würde sie von einer unsichtbaren Macht angezogen. Vermutlich handelte es sich dabei nur um ihre eigene Neugier, doch was, wenn mehr dahintersteckte?

Ein leises Geräusch sickerte durch ihren Gehörgang. Zunächst klang es wie das Meeresrauschen im Innern einer Muschel, dann wurde es langsam klarer. Iris vernahm eine Stimme, doch noch bevor sie den Klang bewusst zuordnen konnte, zog sich ihr ganzer Körper zusammen. Die Eiskristalle in ihrem Innern bekamen lange Risse und setzten eine erbärmliche Kälte frei, die sich den Weg durch ihre Adern bahnte. Waldmädchen, ertönte die Stimme aus der Futusfera. Waldmädchen, ich weiß, dass du mich hören kannst. Diesen Worten folgte ein unterdrücktes Gelächter, bei dem Iris spontan übel wurde. Sie krümmte sich und klammerte sich mit beiden Händen an die Tischkante. Das Seidentuch, das sich über die Futusfera spannte, schien in einem Luftzug zu wogen, wodurch sich das Licht der magischen Lampen an den Fasern brach und sie zum Schillern brachte. Was haben wir denn hier? Zwei Hochwohlgeboren, was? Die Worte wurden von vielstimmigem Gelächter und dem explosionsartigen Knallen einer Peitsche durchbrochen. Was glaubt ihr, wie viel sie aushaltenunsere zwei Prinzessinnen, hmWer will mit mir wetten? Eins. Knall. Zwei. Knall. Drei. Knall. Ich sehe schon Blut. Das heißt, sie brauchen es fester. Seht, wie sie sich winden. Da wird die Hose schon eng, was, Männer?

Die Forelli-Dynastie: Göttliches ErbeWhere stories live. Discover now