01| Packesel

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Mit einem lauten rumms landete meine schwere Reisetasche auf dem Boden meines neuen Zimmers. Etwas außer Atem von den vielen Treppen, die ich gerade hinter mir gelassen hatte, schaute ich mich in meinem neuen Zuhause um. In dem relativ kleinen Zimmer befanden sich zwei Betten, zwei Schreibtische und zwei Kleiderschränke. Durch die exakt gleiche Anordnung der einzelnen Möbelstücke wirkte der Raum wie gespiegelt. Die Wände waren schlicht beige gestrichen und der Boden stellte dunkelbraunes Laminat dar. Die restlichen Möbelstücke bestanden ebenfalls aus dunklem Holz, was dem kleinen Raum eine natürliche Note verlieh. Am gegenüberliegenden Ende des weitestgehend quadratischen Raums befand sich ein großes Fenster, durch das man den grünen, baumbewachsenen Campus ausmachen konnte.

Eine sanfte Berührung an meiner Schulter ließ mich kurz zusammenzucken und den Kopf drehen. Meine Mom war neben mich getreten und betrachtete mich wehmütig, aber auch glücklich.

"Und? Gefällt es dir hier?" Sie lächelte mich sanft an. "Ich denke schon. Ja", antwortete ich, während ich den sich füllenden Campus betrachtete. Noch hatte ich ja nicht allzu viel gesehen. Nur ein flüchtiger Besuch auf dem Campus, das unendlich erscheinende Treppenhaus und schließlich mein zukünftiges Zimmer. Mein Blick wanderte zu den beiden Betten in den hinteren beiden Ecken des Raumes und ich musste an meine zukünftige Zimmergenossin denken, die ich noch nicht kennengelernt hatte. Nur ihren Namen kannte ich bereits. Als mir mein Zimmer zugewiesen wurde, hatte man mich ebenfalls darüber informiert, dass ich mir mit einer gewissen Amber Stewart das Zimmer teilen werde. Das ist alles was ich über sie wusste - ihren Namen. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht allzu unerträglich sein würde. Im Großen und Ganzen würde ich mich schon als toleranten Menschen beschreiben, doch auch ich habe meine Grenzen. Es brauchte schon einiges um mich auf die Palme zu bringen, deswegen machte ich mir nicht wirklich Sorgen um meine Zimmernachbarin. Natürlich wäre es weitaus angenehmer und einfacher, wenn wir uns gut verstehen würden, aber im schlimmsten Fall müssten wir ja nur im gleichen Zimmer schlafen. Auch kein Weltuntergang.

Als ich meine Mom erneut anschaute, konnte ich erkennen, dass ihre blauen Augen etwas wässrig geworden waren und sie sich bemühen musste, die Tränen zurückzuhalten. Ich schenkte ihr ein trauriges Lächeln. Auch für mich war es nicht einfach meine Mom zurückzulassen. Schließlich befand sich Granville, mein neuer Heimatort, mehr als 6 Stunden entfernt von Seabrook. Aber nicht nur von ihr musste ich mich verabschieden. Meine ganze Kindheit hatte ich dort verbracht und demzufolge musste ich nicht nur meine Heimat, sondern auch meine Freunde hinter mir lassen. Natürlich konnte man telefonieren und irgendwie in Kontakt bleiben, aber es war nicht das Gleiche. Man würde sich früher oder später auseinander leben. Leugnen war zwecklos. In meinem engen Freundeskreis war ich die einzige, deren Zukunft sie so weit weggetragen hatte. Natürlich verschanzten sie sich nicht alle in Seabrook, aber sie blieben weitaus näher an ihrer Heimat, Freunden und Familie. Aber was hätte ich denn tun sollen? Das Stipendium ablehnen? Den Traum vom Medizinstudium in den Wind schießen? So schwer es mir auch fiel, ich musste diese Chance nutzen. Hätte ich es nicht gemacht würde ich es bereuen, dessen bin ich mir sicher.

Da mir der Blick meiner Mutter langsam aber sicher das Herz zerriss, zog ich sie in eine feste Umarmung. Erst jetzt merkte ich, wie dringend auch ich sie gebraucht hatte. Ich schloss die Augen und genoss ihre Anwesenheit, denn allzu bald würde ich sie nicht wieder sehen. Ihre dunkelbraunen Wellen, die auch meinen Kopf zierten, kitzelten an meiner Wange. "Ich bin so stolz auf dich. Hörst du Elli? So so stolz." Sie drückte mich etwas fester an sich. "Ich wusste schon immer: Wenn du dir einmal was in den Kopf gesetzt hast, dann schaffst du es auch. Du kannst alles schaffen mein Schatz. Du bist so schlau und so schön." Sanft trennte sie sich von mir und blickte mir tief in die Augen. Eine erste Träne hatte sich aus ihren Augen gelöst und lief ihr langsam über die Wange. "Du siehst aus wie dein Vater. Nur hübscher natürlich. Und weiblicher." Sie entlockte mir ein leises Lachen und auch sie musste lächeln. Sie hatte recht, bis auf die braunen Wellen, die mir bis unter die Schulterblätter gingen, teilte ich so gut wie keine äußeren Merkmale mit ihr. Im Gegensatz zu ihren blauen Augen, waren meine grün und statt der langen, geraden Nase, hatte ich eine kleine Stupsnase.

Der Schmetterling unter den MottenМесто, где живут истории. Откройте их для себя