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Ich erwachte nicht im Himmel, nicht gebettet zwischen Wolken und Sternen, nicht mit dem Chor der Engel in meinen Ohren. Ich war lebendig und umhüllt von Düsternis, mein Herz schlug und das einzige Geräusch, das ich vernahm, war mein eigener Atem.

Ich fühlte Wärme und Geborgenheit, was nicht zuletzt der dicken Decke und dem weichen Bett verschuldet war, in dem ich lag. Es fühlte sich federleicht und sicher an, beinahe wie die Umarmung der Frau aus meinem Traum.

Aber war es denn ein Traum gewesen? Ich vermochte mich nur an Bruchstücke, flimmernde Bilder und einzelne Wörter zu erinnern. An das, was ich empfunden, nicht recht an das, was ich gesehen hatte.

Doch irgendetwas musste geschehen sein, denn sonst hätte ich wohl kaum in einem mir unbekannten Zimmer in einem fremden Bett gelegen und in die Schwärze gestarrt.

Ich empfand zu diesem Zeitpunkt keine Furcht, vielmehr Neugierde oder Verwunderung, die jedoch alsbald von dem übermächtigen, schweren Gefühl der Müdigkeit überschattet wurden.

Ich war sicher, ich hatte geschlafen, hatte länger und besser geschlafen, als ich es je zuvor in meinem Leben getan hatte, dennoch wollte mich der Schlaf zurück in seine Arme ziehen, mich im Meer der Träume ertränken.

In diesem Dämmerzustand war Beth vollkommen aus meinen Gedanken verschwunden, hatte sich zusammen mit Angst und Schmerz gleich Rauchschwaden aufgelöst. Ich fühlte nur Wärme, ein prasselndes Kaminfeuer in meiner Brust. Und das sollte noch für einige Zeit so bleiben.

Die Träume, die mich in den darauffolgenden Stunden heimsuchten, waren von höchst ungewöhnlicher Natur. Sie erzählten von fremden Ländern und Kulturen, von all den schönen und all den hässlichen Dingen, die der Welt im Verlauf ihrer Existenz widerfahren waren. Ich sah Königreiche aufsteigen, schmeckte süßen Wein und spürte warme Sonnenstrahlen auf meiner Haut, als wäre ich tatsächlich an jenem fernen Strand, durchstreifte tatsächlich die Gänge jener alten Burg. Dann rollte die Finsternis heran, zeigte mir Elend, zeigte mir die aufgequollenen Leiber der Pestkranken und eben noch prunkvolle Königreiche, die in Krieg und Feuer untergingen. Ritter und Soldaten, die ihr Leben ließen und dann... Die gütigen Arme einer Mutter, die mich festhielten, die mich vor all dieser Grausamkeit beschützten.

Von damals an hat es sehr lange gedauert, bis ich verstand, dass es keine Träume waren. Dass es mein Engel war, der mir Erinnerungen und kurze Momente der Zeit zeigte, die schönen wie die schrecklichen. Meine Mutter, die mir einen Vorgeschmack gab auf alles, was war und sein würde. Es war ihre Kraft, verstehst du? Eine wundervolle Kraft.

Als ich wieder erwachte, mochten Tage vergangen sein, Stunden oder Minuten. Es war ganz gleich. Die Wärme der Vergangenheit hatte Beth und meine Trauer aus meinem Verstand gespült, hatte mir den Schmerz genommen. Eine Grausamkeit wie ein Segen, wenn ich so darüber nachdenke. Einem Kind diese Erinnerung, diese Erfahrung zu nehmen.

Durch einen Spalt zwischen den dicken und kunstvoll bestickten Vorhängen fiel ein schmaler Lichtstrahl, durch den der Staub tanzte. Es war Tag. Heller Tag. Mit einem Mal drangen die Geräusche wieder an meine Ohren, hörte ich die Stadt außerhalb des Zimmers leben und atmen. Hier und da wieherte ein Pferd, knallte eine Peitsche, ratterte eine Kutsche über die Straße. Menschen sprachen, riefen, schrien, Hunde bellten... Das Leben ging weiter. Ohne Beth. Ohne mich.

Denn wo war ich?

Da ist diese unschuldige, diese bare und einzigartige Neugierde, die nur Kindern innewohnt und über die man als Zuschauer fast denken könnte, sie würden damit die ganze Welt erkunden und Amerika noch einmal entdecken. Ebendiese Neugierde war es, die in diesem Moment Besitz von mir ergriff. Die berührenden und so real wirkenden Träume saßen mir noch tief in den Knochen, doch ich konnte nicht länger zulassen, dass Müdigkeit und Wärme mich ans Bett fesselten. Ich hatte lange genug geschlafen. Eine halbe Ewigkeit.

Kinder der Nacht (Blutchronik)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt