Kapitel 1 - Der ungewöhnliche Befehl

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Laut schlug Mirza den dicken Wälzer zu und verbarg ihr Gesicht hinter den Händen. Die Bibliothek war totenstill und nur ihr eigener Atem war zu hören.

„Das darf doch nicht wahr sein. Ich kann mich nicht konzentrieren", murmelte sie. „Man weiß erst, dass man in einer kranken Gesellschaft lebt, wenn sie auf einen aufmerksam wird."

Mirza spähte durch die Finger zu der Bibliothekarin und biss sich auf die Wangeninnenseite. Diese hätte typischer nicht aussehen können: unauffällige Kleidung, ein strenger Dutt, Gramfalten um den Mund und eine Lesebrille auf der Nase. Sie maß Mirza mit einem warnenden Blick, ehe sie wieder auf ihr eigenes Buch starrte.

Nicht weinen, das kriegt sie mit, beschwor sie sich und schloss die Augen.

Eigentlich war Mirza eine fröhliche junge Frau. Eigentlich war es nicht ihre Art, den Kopf in den Sand zu stecken. Eigentlich konnte sie nichts so schnell kleinkriegen. Aber „Phönix" hatte es geschafft. Phönix war kein Wüstling aus ihrem Dorf – was nicht heißen sollte, dass in Vekon keine lebten. Phönix hatte nicht nur den Namen mit dem legendären Tier gemeinsam. Die Rasse der Nymphen sollte aus ihrer Asche wiedergeboren werden.

Es war ein Projekt, das von den Räten der Nymphen eingeleitet worden war. Mirza selbst gehörte zu den Wassernymphen, ebenso wie ihre gesamte Familie. Phönix sah vor, dass alle jungen Nymphen – Männlein wie Weiblein – zur Erhaltung ihrer Art eine Lebensgemeinschaft eingingen. Mirza hingegen formulierte es anders: Es war ein Zuchtprogramm.

Denn die Nymphen standen kurz vor dem Aussterben. Im gesamten Königreich Myrus gab es nur noch einige wenige. Am zahlreichsten waren noch die Erdnymphen vertreten, dicht gefolgt von den Luftnymphen. Wohingegen es einem Glücksgriff glich, einem Feuer- oder Wassernymph zu begegnen. Schuld daran war eine Krankheit, die alle nur „das Fieber" nannten. Mirza fröstelte bei dem Gedanken an die vielen Kranken. Und ihr Herz blutete, als sie an ihren Vater dachte. Unerwartet hatte er hohes Fieber bekommen und war in eine Art Delirium gefallen. Daraus war er nicht mehr erwacht. Mirzas Mutter Heca hatte Tag und Nacht über ihn gewacht, doch das Fieber hatte nicht verschwinden wollen. Im Frühjahr hatten sie ihn schließlich beerdigt.

Auf Menschen griff dieses Fieber nicht über, dafür war es monatelang unter den Nymphen grassiert. Solange, bis mehr Nymphen auf den Friedhöfen anzutreffen waren als auf den Straßen. Eine Mitschuld an ihrer geringen Zahl trugen auch die Nymphen der Generation vor Mirza. Sie waren überheblich geworden, aufgrund ihrer langen Lebenserwartung. Als Nymph konnte Mirza gut dreimal so alt werden wie ein Mensch. Da sie Energie aus der Natur und ihren jeweiligen Elementen bezogen, ermüdeten ihre Körper nicht so schnell. Und das war auch der Grund für die jetzige Bredouille.

Die Nymphen waren überheblich geworden. Durch ihr langes Leben hatten sie es nicht eilig gehabt, Nachkommen in die Welt zu setzten. Und genau diese Nachkommen fehlten jetzt. Diesen Mangel sollte Phönix beseitigen. Durch Zwangsehen. Und Mirza, mit ihren zweiundzwanzig, fiel genau in das Muster der perfekten Ehefrau.

Resigniert erhob sich Mirza und stellte das Buch wieder ins Regal. Hier würde sie wohl auch nicht auf andere Gedanken kommen können. Gestern war ein Bote zu ihnen ins Haus gekommen und hatte die „frohe Botschaft" überbracht. Mirza sollte sich innerhalb einer Woche in der Hauptstadt am Palast einfinden. Dort würde sie dann ihren zukünftigen Mann kennen lernen.

Während Mirza am liebsten auf der Stelle tot umgefallen wäre, hatte ihre Familie sich gefreut. „Kind, was für eine Ehre für uns, dass du vom Rat ausgewählt worden bist."

Ja, was für eine Ehre, ging es Mirza durch den Kopf, als sie das öffentliche Gebäude verließ. Der Tag war sonnig und wunderbar war. Die Vöglein sangen und spielende Kinder rannten durch die Straßen. Aber davon bekam Mirza nichts mit. Sie war damit beschäftigt ihre zerplatzten Träume vor sich aufzureihen.

Mirza - Die Nymphen von Mirus (1)Where stories live. Discover now