eleven » oblivion

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Der Fluss strömte dunkel und leise Wellen rauschten beruhigend in einem langsamen Rhythmus. Es dämmerte, die Luft war jedoch warm und umfloss die beiden Gestalten, die einstimmig beschlossen hatten, nebeneinander zu stehen und auf das knisternde Feuer vor ihnen zu blicken.

Vollkommen stumm standen die Mädchen in stiller Zweisamkeit, das eine etwa größer als das andere, ihre Schultern sich ab und an berührend.

Sie blickten hinunter auf die lodernden Flammen, die mit vergehender Zeit zu glühenden Kohlen schwanden. Doch, plötzlich, als wäre es ein stilles Übereinkommen, holte das größere der Mädchen ein stark lädiertes Buch hervor, dessen Seiten herausgerissen und vergilbt waren, die unordentliche Schrift immer schwerer lesbar.

Ohne Worte teilten sie die Seiten unter sich auf, eine verschlissener als die andere. Es sah beinah aus, wie eine alte Schrift, kein Heiligtum, doch immer noch von großem Wert.

Die beiden Mädchen setzten sich fast synchron auf den kalten Rasen, der sich bedingt durch die späten Abendstunden bereits stark abgekühlt hatte. Ihre Knie berührten sich bereits, als das größere der Mädchen den ersten Zettel auf ihrem kleinen Stapel näher betrachtete, bevor sie sich plötzlich leise räusperte. Es schien, als wäre es eine unheimliche Überwindung für sie, auch nur ihre Stimme zu erheben.

Das Mädchen trug den Namen Katharina. Und Katharina traute sich, so blitzschnell, dass es einem den Atem verschlug, und begann, die Worte auf der zerissenen, gelben Seite ihres Tagebuches zu verlesen. Das Mädchen neben ihr, Lynn, schien überrascht, doch passte sich schnell Katharinas leiser, schüchterner Stimme an, um ihren Worten zu lauschen.

»Hi. Ich bin Katharina. Seit kurzem bin ich in einer Therapie, weil ich lesbisch bin. Ja, ich. Und da soll ich dieses Tagebuch hier schreiben. Damit man mir helfen kann.« Katharinas Stimme klang so gebrochen, so voller Schmerz, dass es Lynn den Magen umdrehte. Ein letzter Satz stand auf der ersten Seite, von offensichtlichen Tränen auf dem gelben Papier verwischt, doch gerade noch lesbar.

»Ich habe Angst.« Lynn schluckte, als sie Tränen in Katharinas Augen schwimmen sehen konnte. Das alles hier kostete ihr so unendlich viel Kraft, die direkte Konfrontation mit allem, was das Monster in ihr erweckte. Langsam streckte Lynn eine Hand aus, die von ihrem übergroßen Pullover fast verschluckt wurde, und berührte kurz Katharinas Arm. Ein stilles Zeichen der Anteilnahme, ein Versuch, sie zu beruhigen. Und er wirkte.

Lynn seufzte leise und sah herunter auf ihren eigenen Stapel. Die zweite Seite war die ihre. »Heute war meine zweite Therapiestunde. Meine Therapeutin ist ziemlich nett, bis jetzt. Aber, es gibt etwas, was ich mir nicht traue, ihr zu erzählen. Deswegen schreibe ich es jetzt hier, dann muss sie es nur lesen. Ich habe mich verliebt, in ein Mädchen. Luise. Schon lange, eigentlich. Sie ist einfach toll, aber sie hat einen Freund. Ich kann ihn nicht leiden, er behandelt sie wie ein Objekt. Aber sie hat mich bisher auch noch nie bemerkt. Was soll ich nur tun?«

In knallroter Schrift stach ein Absatz auf der Seite hervor, seltsam unverschmiert im Kontrast zu der schwarzen Tinte, mit der Katharina in das Buch geschrieben hatte. »Sich in ein Mädchen zu verlieben, ist falsch. Das ist die erste Regel, und die zweite ist, dass wir den Teufel nicht beim Namen nennen. Ich will, dass du ihren Namen aus deinem Gedächtnis verbannst, als wäre er deine größte Sünde. Arbeite an dir selbst.«

Geschockt starrte Lynn auf den Kommentar, den Katharinas Therapeutin hinterlassen hatte, bevor sie sich mit großen Augen zu Katharina drehte, die nur gequält lächelte und die Schultern zuckte.

»Bitte sag mir, dass du das nicht geglaubt hast. Bitte!« Verweifelt erhob Lynn ihre Stimme, doch sie konnte an Katharinas Augen erkennen, dass sie sich mit ganzem Herzen an diesen Worten festgeklammert hatte, eine letzte Hoffnung, um ihr zu helfen.

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