5 - Ein Lichtblick

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„Nicht wirklich... haben sie eine Idee?"

„Idee ist vielleicht zu viel gesagt... ich muss immer wieder an Nummer 14 denken. Seit dem ich... seitdem 14 in eine Krise gefallen ist... ich meine, ich weiss, dass es nicht meine Schuld ist und ich mache mir auch nicht wirklich Vorwürfe... es hätte auch bei jemand anderem passieren können... trotzdem... ich weiss wie es ist, wenn man im Dunkel sitzt und kein Licht mehr sieht, es nicht mal mehr erahnen kann..."

Miss Allencomb zog erstaunt die Augenbrauen nach oben und ich brach ab, schaute sie irritiert an. Sie sah es und lächelte. „Ich bin erstaunt. Sie haben versucht, sich in eine andere Person hineinzuversetzen. Und so wie es klingt, ist es ihnen auch gelungen."

Ihre Worte erstaunten mich. Sie hatte am Anfang oft gesagt, dass mir etwas Wichtiges fehlen würde, genau diese Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Sie hatte mit mir oft darüber geredet und ich hatte es nicht wirklich verstanden und jetzt... ja, sie hatte recht. Ich hatte verstanden, wie sich Nummer 14 fühlte. Wobei verstanden nicht das richtige Wort war. Es war eher so, als ob ich ein Echo von dem spürte, wie es ihr ging.

„Ich habe es nicht... es ist... es war einfach so da... ich habe nichts gemacht... es ist wie ein leises Echo, als wenn ich selbst in dem dunklen Loch sitzen würde." versuchte ich es auszudrücken. Spannenderweise verstand ich es selbst besser durch den Versuch, es ihr zu erklären.

„Sie haben mehr gemacht, als sie vielleicht sich vorstellen können. Ich glaube, sie haben den grössten Schritt in ihrem Leben gemacht, seitdem sie angefangen haben zu laufen." sagte sie und es klang beeindruckt. Vielleicht hatte sie recht. Ein kurzes Lächeln huschte über mein Gesicht und plötzlich schossen mir Tränen in die Augen, es fühlte sich an, als würde ich auseinander brechen. Sie liess mich weinen, sagte nichts, sondern sass einfach da. Als die Tränen aufgehört hatte und keine Neuen mehr kamen, sagte sie sanft. „Es ist wie wenn ein Kind laufen lernt. Der erste Schritt ist der Wichtigste, aber auch der Schwierigste und dann beginnt es eigentlich erst. Es ist noch ein langer Weg, bis man rennen, springen und Saltos schlagen kann. Es braucht Geduld und Übung." Mit den Worten ging sie aus dem Zimmer und liess mich allein zurück, aber ihre Worte klangen in mir noch nach. Ich legte den Umhang wieder ab, lehnte mich ans Fenster und sah hinaus. So viele Mug... Menschen. Die Vorstellung, dass es ihnen allen irgendwie und irgendwann ähnlich gehen würde, oder schon gegangen war... war in gewisser Weise überwältigend. Wirklich eine neue Welt.

„Ein weiter Weg... üben, so wie man laufen lernt." die Worte waren einfach, ein Bild, und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – gut zu merken. Nach einiger Zeit wurde das Gefühl, dass das Zimmer zu klein und eng war, beinahe erdrückend. Etwas zog mich nach draussen. Ich eilte zur Tür, dachte im letzten Moment noch daran, den Umhang anzulegen, bevor ich auf den Gang trat. Die ganze Station lag auf dem sechsten Stock, den das Ministerium nach dem Krieg hatte bauen lassen. Alles war weiss und hell, nur die Umhänge waren schwarz. Warum auch immer. Ich lief los, unruhig, ziellos, von etwas angetrieben, dass sich zu regen begonnen hatte, als Nummer 14 so verkrümmt am Boden gelegen war wegen mir. Eine Unzufriedenheit, die ich noch nicht ganz begreifen konnte, aber ich vertraute dem Gefühl. Ich konnte auf einmal nicht mehr länger in meinem Zimmer sitzen und aus dem Fenster starren. Ich hatte den Drang, etwas zu machen. Ich liess mir Zeit, lief einfach umher und schaute, wartete, dass sich der Eindruck klären würde. Die Station hatte sich nicht verändert und doch war sie anders als zuvor. Irritiert versuchte ich mich zu erinnern, was sich geändert hatte, aber alles sah noch genauso aus wie davor - und trotzdem war es anders. War es früher einfach ein Ort für Kranke, den sie neu gebaut hatten, sah ich nun Menschen in schwarzen Kutten, die oft still sassen, manche aufrecht, manche eingesunken und ich ahnte ein Stück von dem Mensch dahinter. Sein Leiden und seinen Schmerz. Und ich musste immer wieder gegen die Tränen anschlucken, die sich dabei nach oben drängen wollte. Mehrmals musste ich mich beinahe dazu zwingen, mich nicht innerlich abzuwenden, es auszuhalten. Es war wie ein Flüstern, ein Widerhall. Fein und leise und doch intensiv und nahezu überwältigend. Ein neue, weite Welt. Ich musste mehrmals anhalten, eine der weissen Wände anschauen, um nicht von den Eindrücken überwältigt zu werden. Nach einer Weile wurde es langsam besser. Ich ging den Gang weiter und als ich aus dem Gang in den hellen, glasüberdeckten Platz in der Mitte des Stockwerks kam, sah ich ein kleines schwarzes Bündel, dass sich in einem der grossen Sessel gedrückt hatte und sich nicht bewegte. An der Schulter war eine weisse 14 eingestickt. Die Haltung sah so erbärmlich aus, dass das ganze Schlucken nichts mehr nützte. Der Eindruck einer bodenlosen Finsternis überrollte mich und mir liefen unvermittelt Tränen übers Gesicht. Und mit den Tränen kam eine unglaubliche Wut in mir hoch, die mich völlig unvorbereitet traf. Verunsichert blieb ich stehen und wartete, aber die Wut blieb. Nicht mehr so heiss wie am Anfang, aber immer noch genau so drängend. Ich verstand nicht. Die Finsternis war von Nummer 14. Aber die Wut nicht. Woher kam dann diese? Nach einer Weile machte ich kehrt und suchte Miss Allencomb.

Ich und DracoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt