Kapitel 31

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Monja

„Was ist dein Lieblingstier?" Meine Arme werden langsam lahm, aber wenn Lori an meiner Hand laufen würde, hätten wir das Dorf noch nicht verlassen.

„Kuh!", ruft sie. Ihre freie Hand ist in meinen Haaren verheddert. Sie zerrt unterbewusst ständig daran, aber auch das ignoriere ich. Ich nehme den Schmerz ohnehin kaum wahr. In der anderen Hand hält sie noch immer Momo fest.

„Ach ja?", frage ich belustigt. „Hast du schon mal eine gestreichelt?"

„Ja, in meinem Bett", sagt sie freudig.

Ich lache. Sie meint ihre Stoffkuh, die sie im Bunker ihrer Eltern zum Spielen hatte.

Wir erreichen die Straßenbahnhaltestelle. Wieder kommt es mir zugute, nichts für die Fahrt bezahlen zu müssen. An einem Montagvormittag arbeiten außerdem die meisten, weshalb sich nur ein älterer Herr und ein Ehepaar mit Kinderwagen in der Bahn aufhalten.

Ich entferne vorsichtig Loris Hand aus meinen Haaren und setze sie neben mich auf den Sitz. Der ältere Mann wirft mir von der Seite einen skeptischen Blick zu. Ich habe Lori ans Fenster gesetzt, um sie vor neugieren Blicken zu verbergen. Außerdem kann sie nach draußen schauen, um sich abzulenken.

„Wie alt ist die Kleine?", spricht mich der Mann an. Nun hat er ein freundliches Lächeln aufgesetzt. Ich erwidere es nicht. Er fragt bloß nach, weil er sicherlich mithilfe der Gesichtserkennung mein Profil angesehen hat. Zum Glück sieht er nicht jedes Detail über mich, da wir unsere Lifves nicht verbunden haben. Jetzt interessiert es ihn wahrscheinlich, ob sie meine Schwester oder Tochter ist. Menschen können penetrant neugierig sein.

„Eins", antworte ich knapp, nur damit er mich in Ruhe lässt.

„Sehr süß", meint er. Ich schaue demonstrativ aus dem Fenster.

Am Bahnhof in Houston steige ich aus. Ich eile mit Lori auf dem Arm zum Gleis, auf dem die Speed-Züge nach Austin abfahren und erwische ihn in der letzten Minute vor der Abfahrt.

Als ich mit Lori im Wald gesessen habe, heulend und vollkommen verzweifelt, ist mir die einzige Person in den Sinn gekommen, die mir helfen könnte: Aubrey Jameson.

Sie hat genug Einfluss und mag mich, genauso wie ich sie mag. Welche anderen Möglichkeiten habe ich auch sonst? Ich kann nur hoffen, dass es für meine Freunde nicht schon zu spät ist.

Und dann habe ich aufgehört zu weinen. Mit Heulen hat man noch keine Probleme gelöst. Es tut hin und wieder gut, aber irgendwann muss man auch wieder damit aufhören. Ich habe lange genug, meinen Kopf eingezogen und alles still über mich ergehen lassen: Meine Eltern, die mich wie eine Plage behandelt haben, Kane, der mich verlassen hat, die Übereignung, meine unfreiwillige Jobzuweisung, Nate. Von all dem werde ich mich nicht mehr kleinkriegen lassen.

Auf der Zugfahrt habe ich Lori mit Toastbrot und Erdbeeren gefüttert und sie auf der Toilette gewickelt. Dabei musste ich sie ständig ablenken, damit sie nicht wieder an zuhause denkt. Dass mir das gelingt, erfüllt mich mit ein klein wenig Stolz.

Vom Bahnhof in Austin, der außerhalb liegt, laufe ich mit Lori eine viertel Stunde zu der Villa der Jamesons. Sie ist auf meinem Arm eingeschlafen und wiegt dadurch ungefähr drei Kilo mehr. Aber ihr Wohlergehen geht vor.

Es ist mittlerweile ein Uhr nachmittags. Nate müsste sich im Bungalow aufhalten. Oder sie suchen bereits nach Ryland. Ich habe keinen Lifve dabei, mit dem ich Aubrey kontaktieren könnte. Einfach klingeln ist zu riskant. Ich will Nate nicht begegnen.

Ich verstecke mich halb in ein paar Büschen auf dem riesigen Grundstück und versuche zu erkennen, ob sich im Bungalow jemand aufhält. Tatsächlich entdecke ich Nate auf seinem Bürostuhl. Er lehnt sich gerade zurück, steckt sich etwas zu essen in den Mund und unterhält sich dann mit jemandem. Wohl per Lifve, den im Inneren hält sich sonst niemand auf.

Lifve - Abgründe der MenschheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt