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31.12.1999
Felsenmeer im Odenwald,
kurz vor Mitternacht

Die verschleiert vor- und zurückbewegenden Mädchen hielten dicke, großwandige Kerzenlampen in den nach vorne ausgestreckten Händen. Es war eisig kalt und die großen Felsen tiefgefroren, wenn sie auch immerhin zu diesem Ereignis vom Schnee befreit und leicht mit Sand abgestreut worden waren, damit die Tänzerinnen nicht so schnell ausrutschen konnten.
Hier am Felsenmeer eine solche Show abzuhalten, wäre vor ein paar Monaten noch undenkbar gewesen, dachte Feeline bei sich und lächelte, als sie im Takt der Flöten, Trommeln und Gitarrenmusik vor- und zurücktrat, wie sie es sollte und sich dann, einmal kurz die Hand anhebend, um sich selbst drehte, sodass ihre langen Haare wie auch der Schleier flogen. Fast schon verrutschte dabei ihr Blumenkranz, den sie noch am frühen Abend für sich selbst gewunden hatte.
Die Raketen stiegen derweil weiter fort, unten im Ort in den Himmel hinauf und zerplatzten zu bunten Glitzerlichtern ... Endlich war es soweit.
Das Millennium war gekommen.
Ein neues Jahrtausend.
Die Zuschauer zündeten nun alle, auf ein hohes Flötensignal hin, ihre extra-langen Wunderkerzen an und das Blitzen und Funkeln, das nun durch die Reihen der Zuschauer lief, war wunderschön und zauberhaft, während die Musik sich nun ebenfalls veränderte, leiser wurde und Lia jetzt einsetzend als erste von allen Mädchen zu singen begann.
Sie stellten sich alle rasch neu auf und hoben ihre Glaslichter zum Himmel empor, bevor sie sich alle gleichzeitig wegdrehend abwandten, um mit dem letzten Reigen zu beginnen.
Feeline hüpfte, so elegant wie sie nur konnte, auf einen der breiten Steine hinauf, so wie auch noch drei andere Mädchen es taten, die keine Ballerinen waren, und begann nun ebenfalls laut und mit ihrem hohen klaren Sopran in das altgermanische Lied einzufallen, das sie alle in den letzten Monaten zu singen gelernt hatten, derweil die fantastischen Tänzerinnen aus der Ballettgruppe sich nun unten am Boden auf ihre Spitzen stellten und anmutig zu drehen und ihre Ballett-Choreografie zu tanzen begannen.
Auch wenn das nun gar nicht alt-germanisch war, sondern ein Zugeständnis an die Neuzeit, ... es sah einfach nur wunderbar aus, ... richtig magisch.
Gott!
Beinahe hätte Feeline vergessen, weiter zu singen, doch sie sammelte sich rasch und begann nun ihr kurzes Solo, bevor alle anderen Sängerinnen wieder mehrstimmig mit einfielen.
In der Menschenmenge sah sie kurz das verzückt lächelnde Gesicht ihrer Mutter im blitzenden Funkenschein ihrer Wunderkerze und lächelte daraufhin ebenfalls noch mehr, strengte sich ordentlich an, um sie stolz zu machen. Vielleicht zum ersten und letzten Mal ...
Denn Fee war schon immer eine bessere Sängerin als eine Tänzerin gewesen, so pummelig wie sie war und nur ihre Stimme hatte den Geschichtsprofessor der Uni Gießen dazu gebracht, sie zu nehmen und das Programm ein wenig umzustellen, mit nun vier Hauptsängerinnen und sechs Haupttänzerinnen.
Doch als sich nun das Tanz-Solo der sechs Ballerinen dem Höhepunkt näherte und sie wieder mittanzen musste, sprang sie lächelnd vom Stein herunter und die Musik wurde noch einmal lauter. Eindringlicher. Sie näherten sich nun dem Höhepunkt des Reigens.
Ein unglaubliches Glücksgefühl stieg in Feeline auf, da sie sich nun unter den anderen Tänzerinnen als eine der ihren bewegte, wie auch die Zuschauer bei diesem erhabenen, fast magischen Anblick unter dem Feuerwerk andächtig lächelten und staunend zusahen, denn sie begingen den Millenniums-Reigen auf fast genau dieselbe Weise wie ihre lägst zu Asche gewordenen Vorfahren vor genau eintausend Jahren es getan hatten, wie verborgene, alte Schriften aus den uralten Archiven der deutschen Nationalbibliothek es ihnen gezeigt hatten. Der alte Professor Konrad hatte nach dem Fund seiner Kollegen sofort nach Freiwilligen unter den Gießener Studenten und Schülern der nahen Schulen gesucht, um dieses Spektakel, das einst am Felsenmeer stattgefunden hatte, historisch nachzustellen. Mithilfe einiger Sprach- und Altertums-Experten, versteht sich, denn kaum einer wusste heute noch die rechte Aussprache des altgermanischen Textes zu lehren.
Und auch sonst gab es da so einige Voraussetzungen, um eine der zehn Tänzerinnen zu werden: Sie mussten weiblich und mindestens achtzehn Jahre alt sein, möglichst hüftlanges rötliches Haar haben und gut singen und tanzen können.
Der Professor hatte sicher ein halbes Jahr lang die alten Worte in der alten Sprache mit ihnen eingeübt und war schlicht begeistert gewesen, die zehn Mädchen, die im Text beschrieben worden waren, doch noch beisammen bekommen zu haben.
Aber Fee konnte sich wirklich glücklich schätzen, dass zumindest der Professor sie für dieses Ritual akzeptiert hatte. Zu dick für eine richtige Tänzerin und auch nicht so hübsch wie die anderen Mädchen, keine Studentin und auch nicht so gebildet oder selbstbewusst, fiel sie eigentlich aus dem Suchrasta komplett heraus.
Zu tollpatschig und merkwürdig, hatte Katrin gemeint und sie kurz gehässig schnaubend von oben bis unten angesehen.
Ja, Katrin war die Schönste unter den Mädchen und tanzte schon seit über vierzehn Jahren klassisches Ballett.
Sie hatte sich schwer getan mit der Vorstellung, dass ein Pummel wie sie auch noch direkt neben ihr tanzen oder wenigstens singen sollte.
Doch sie hätten sonst einfach nicht genug Mädchen gehabt, die auch noch hell und langhaarig genug waren für dieses Historienstück.
Denn sie mussten sich ja auch noch alle ihre Haare richtig rot oder zumindest rötlich tönen lassen, denn in braunen oder schwarzen Haaren sah man es ja nicht.
Der alte Professor hatte auf das Murren vieler abgewiesener Studentinnen hin gemeint, man sollte es möglichst genau nachstellen, wenn man sich schon die Mühe machte.
Zwei der empörten Ballerinen hatten sich daraufhin ihre Haare erst noch einmal blond aufhellen lassen, bevor sie diese rot getönt hatten. Doch die anderen aus der Gruppe hatten sich nicht dazu bewegen lassen. Denn wer bitte wollte schon Spitzentanz am Felsenmeer machen? Bei Eiseskälte, Glatteis, Schnee und um Mitternacht?
Natürlich ... diese Kulisse war atemberaubend, diese Formation von Steinen existierte im Odenwald schließlich schon seit tausenden von Jahren, die aus einem gewaltigen Vulkanausbruch oder auch mehreren Erdrutschen entstanden sein mussten. Die Archäologen hatten an dieser Stelle sogar diesen ganz seltsamen alten Steinaltar gefunden, um den herum sie sich nun alle auf das Ende des Reigens zubewegten.
Sie hatte sich bei den Proben im Herbst schon oft gefragt, ob darauf früher vielleicht auch mal Menschen geopfert worden waren oder ob hier Hexen in einer Walpurgisnacht getanzt hatten oder Elfen ... oder Feen ... oder Geister.
Ihre Fantasie malte sich aber letztlich doch lieber einen heimlichen, romantischen Treffpunkt für Verliebte aus, die sich hier bei den Steinen ewige Verbundenheit geschworen hatten ... na ja.
Sie war eben romantisch veranlagt, so auch jetzt wieder, als sie sich erneut wie alle anderen zu drehen und im Takt der Musik zu wiegen begann.
Lia, also Liane Degenhard, eine der nettesten Studentinnen hier, sang erneut den Einsatz und die Gruppe folgte ihr, fiel ein und sang mehrstimmig mit, oh das klang so schön.
Die alten Worte, die eine mystische Geschichte beschrieben, hatten sich anfangs ja noch ungewohnt angehört, doch jetzt und hier passten sie genau und es waren auch immer dieselben Worte, wieder und wieder ... und von vorne, ... während sie alle nun um die Steine herum zu kreisen begannen, immer zwei Mädchen um einen der dicken Steine und dabei erneut die Kerzengläser hochhaltend. Zum Schluss würden sie sich alle beim mittleren Altar im Kreis treffen, doch jetzt noch nicht. Sie sah ihren Atem in der kalten Luft davonwehen. Sie hatte Gänsehaut, so ergriffen war sie von diesem Augenblick.
Die Steine waren hier nicht aufrechtstehend, so wie in den Steinkreisen. Nicht so wie Stonehenge oder so, sondern sie lagen wie bei einer gewaltigen Lawine abgegangen und übereinander gepoltert am Boden, waren unförmig und damit nun auch ein natürlicher Teil der Show, weil sie darauf und darüber und auch davon heruntersprangen, ... immer wieder und wieder.
Am Anfang hatte sie ja noch leicht gezweifelt, ob sie für so eine einmalige Sache tatsächlich ihr langes blondes Haar tönen lassen sollte. Schließlich würde es ewige Zeit dauern, die Farbe wieder komplett herauszuwaschen. Glück hatte da nur Thea, also Theresa Maurer, die von Natur aus rote Haare hatte, und grinsend gemeint hatte, sie sei hier die einzig echte Millenniums-Tänzerin der Gruppe.
- Sollte sie doch, das störte gar nicht, fand Feeline und drehte sich erneut zusammen mit Lia um den Stein, die ihr dabei noch kurz aufmunternd zulächelte. Denn sie wusste genau, dass es ihr langsam immer schwerer fiel. Die Puste ging ihr aus, so wie immer am Ende des Reigens. Das Asthma würde sich aber wohl erst nachher melden.
Ach, Gott ...

Drachentanz, 1.Platz PlatinAward2020Where stories live. Discover now