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Ich stutze, bevor ich mich hinunterbeugte, um den zerknitterten Flyer vom Boden aufzuheben. Ich konnte mich nicht erinnern ihn irgendwann eingesteckt zu haben. Eine seltsame und bei Lichte betrachtet auch etwas aufdringliche Art Werbung zu machen. Ich hätte es doch gemerkt, wenn mir jemand einfach etwas in die Jackentasche gesteckt hätte, oder etwa nicht?

Kurz in Panik geratend tastete ich nach dem Handy in meiner Hosentasche und kontrollierte auch, ob sich mein Portemonnaie noch im Rucksack befand. Wenn jemand mir so unbemerkt etwas zustecken konnte, dann dürfte es doch auch keine große Herausforderung sein, mir etwas zu entwenden. Ich atmete erleichtert aus, als ich feststellte, dass beide Wertgegenstände noch an ihrem Platz waren und widmete mich nun endlich dem Flyer, den ich bei der eifrigen Bewegung eben wieder hatte fallen lassen und nun mit einem leisen Seufzer erneut aufhob und beäugte.

"Pizzeria Babylon", verriet mir das Stück Papier und ich betrachtete kurz das Bild einer verführerisch dampfenden Salamipizza unter dem in elegant geschwungenen, roten Buchstaben geschriebenen Schriftzug und mit einem Mal lief mir vor Hunger das Wasser im Mund zusammen.

Erst jetzt merkte ich, dass ich seit dem Käsesandwich im Café heute morgen, den ganzen Tag über noch nichts gegessen hatte. Normalerweise hätte das Hungergefühl schon viel früher einsetzen müssen, doch ich war abgelenkt. Abgelenkt von einem blauem Augenpaar, das mich gegen meinen Willen bis in meine Wohnung verfolgt hatte. Es war als hätte die Vergangenheit mich verfolgt, bereits die ganze Zeit über. 17.000 Kilometer weit über den endlosen Ozean und in die verregnete und doch so charmante Stadt hatte sie mich gejagt ohne dass ich auch nur im Geringsten ahnte, dass sie mir die ganze Zeit über so dicht auf den Versen war. Meine Flucht vor dem, was im letzten Jahr passiert war, die Flucht vor den Narben in meinem Herz und diesem Trauma in meinem nie zur Ruhe kommenden Kopf, war somit offiziell fehlgeschlagen.

Wie auch immer, diese höchst mysteriöse Pizzeria Babylon schien es ja offensichtlich furchtbar nötig zu haben, Kundschaft zu bekommen, wenn sie zu solch drastischen Werbemethoden greifen mussten und da ich sowieso keine bessere Idee hatte, was ich heute zu Abend essen sollte - in meinem Kühlschrank befand sich nichts weiter, als eine noch volle und eine nicht mehr volle Flasche Rotwein und eine Packung Milch, von der ich nicht wusste, ob sie überhaupt noch gut war - beschloss ich, mir eine Pizza zu bestellen. So musste ich das Haus heute nicht mehr verlassen, musste trotzdem keine Corn Flakes mit möglicherweise abgelaufener Milch zu Abend essen und konnte die trostlose Welt dort draußen ihre heimtückischen Spielchen treiben lassen. Diesen Abend ausnahmsweise mal ohne mich. Ich hatte genug gespielt für heute.

Und ich wünschte ich könnte das über die nächsten Wochen, Monate oder bestenfalls das komplette Jahr sagen. Einfach einmal aussteigen aus der Partie, die ich mit großer Wahrscheinlichkeit ohnehin verlieren würde. Aber es war sinnlos. Dies hier war keine Runde Memory oder Mensch-ärgere-dich-nicht. Dies hier war ein erbarmungsloses Spiel mit dem Feuer und ich spürte schon jetzt die vielen Brandwunden, die sich heiß und schmerzvoll auf meiner Haut verteilten. Ich spürte soviel zugleich und zur selben Zeit, rein gar nichts. Wie auch immer, es war egal, schon wieder wurde mir alles so verdammt egal, dass es mir wohl Angst gemacht hätte.... Wäre es mir nicht so egal gewesen.

Mit unberührten Blick wählte ich die Nummer der Pizzeria auf meinem Handy. Am anderen Ende der Leitung ertönte eine dumpfe, rauchige Männerstimme, die kein bisschen nach einem Italiener klang. Es war egal.

Ich bestellte mir eine große Margherita,  nicht weil mich diese unspektakuläre Pizza besonders ansprach, sondern weil ich keine Lust hatte über Dinge nachzudenken wie welche Zutaten ich gerne auf meiner Pizza haben würde. Es war mir schlichtweg egal.

Und noch während ich telefonierte schlurfte ich zur Küchenzeile, die sich in der linken Ecke des recht großen Raumes, dessen hohe Wände aus kaminroten Ziegel gebaut waren, befand, öffnete den Kühlschrank und griff nach der Rotweinflasche. Das große Weinglas stand noch immer, benutzt von gestern Abend auf der schmalen Küchentheke, am Rande des Glases ein Abdruck meiner Lippen, fettig von dem Pflegestift, mit dem ich mir etwa zwölf Mal am Tag meine zerrissenen, zerbissenen Lippen einschmierte, erfolglos versuchend sie wieder in Ordnung zu bringen. Wenn sie doch nur das einzige an mir wären, was kaputt war und sich nicht mehr reparieren ließ...

teach me how to swim // lrh Where stories live. Discover now