ZURÜCK II 2

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Es war Leila, das Mädchen, das sie vor wenigen Minuten noch beschimpft hatte. Sie versuchte, mit ihrem gesunden Bein weg zu robben, doch rutschten ihre Sohlen auf den glatten Pflastersteinen ab. Sie hustete und blutiger Schaum quoll aus ihrem Mund. Annabelle legte hilflos die Hände auf den Körper des Mädchens und spürte plötzlich, wie Feuchtigkeit zwischen ihren Fingern hervortrat. Erschrocken dreht sie die Handflächen und sah im schwachen Licht die glänzenden Flecken, die auf Leilas Kleidung nicht erkennbar waren. Schnell presste sie beide Hände auf die Stelle, wo sie die Wunde vermutete, und versuchte verzweifelt, den Blutfluss zu stoppen. Der Körper unter ihr bäumte sich auf und Leila gab ein schmerzerfülltes Zischen von sich, bevor sie das Bewusstsein verlor. Annabelle war sich nicht sicher, ob es richtig war, die Wunde mit den Händen zu versiegeln, doch hatte sie das oft in Filmen gesehen und hoffte inständig, dass ihre Hilfe Leila mehr nützen als schaden würde. Sie sehnte Rafaels Rückkehr herbei und sah sich nach Jason um, der verschwunden schien.
»Jason?«, rief sie in die Stille, ehe sie lautes Poltern hörte. Jason schlug gegen die Holztür eines Hauses.
»Wir brauchen Hilfe«, schrie er, doch öffnete ihm niemand. Alle Fenster waren stockdunkel und kein Licht drang unter den Türen hindurch. Annabelles Ärmel saugten sich mit Blut voll und ihr Körper zitterte so sehr, dass sie es kaum schaffte, die Hände still zu halten.
Ein Mann näherte sich. Er kam aus der gleichen Richtung, wie sie zuvor. Erleichtert atmete sie auf, als sie die weiße Uniform erkannte.
»Was ist hier passiert?«, fragte er.
Er schob Annabelle zur Seite, die kniend neben dem reglosen Körper am Boden saß. Das Gesicht des Mannes erkannte sie nicht, doch die Stimme. Es war James, der Wächter, der sie für ihren Sprachmittler zu Lucas gebracht hatte. James tastete den Körper des Mädchens ab und verharrte an ihrem Hals. Wenige Sekunden vergingen, bevor er sich mit einem Seufzen erhob und bedauernd auf Leila hinunter sah. Annabelles Muskeln zitterten und sie sah Jason auf sie zu rennen. Sein Körper bebte, als er sie von der Leiche wegzog.
Schnelle Schritte hallten durch die leere Gasse und Rafael erschien zwischen zwei Hauswänden. Er atmete schwer und musterte Annabelle, die benommen in Jasons Armen lehnte und auf den toten Körper starrte.
»Er ist entkommen«, keuchte er, als er sich näherte. James griff in seine Tasche und holte ein kleines, silbern schimmerndes Gerät hervor. Er drückte einen Knopf und wenige Sekunden später füllte sich die menschenleere Straße mit einem Dutzend Wächtern. Eine Frau in blauer Uniform untersuchte die Leiche, gab sie nach einigen Minuten frei und Wächter trugen sie davon.
Annabelles Mund war staubtrocken und sie bemerkte ihren unregelmäßigen Atem. Sie spürte Jasons starke Arme, der ihre Schultern umklammerte und das Geschehen beobachtete. Rafael näherte sich und senkte den Blick.
»Hast du die Person gesehen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf und drehte sich zu Leila, die von drei Wächtern zu einem Flieger getragen wurde, der wenige Meter vor ihnen landete. Annabelle staunte über den schnellen Ablauf. Sie schluckte schwer, als sie Leilas Hand neben dem Hals des Fliegers herunter baumeln sah. Noch nie hatte sie einen toten Menschen gesehen, geschweige denn berührt. Ihre Finger fühlten sich taub an, weshalb sie das klebrige Blut nicht fühlte, das sie wie eine Schicht Honig bedeckte. Vereinzelt leuchteten Lichter in den Häusern auf. Neugierig und verängstigt steckten die Anwohner ihre Köpfe hinaus und beobachteten, wie die Wächter in den angrenzenden Gassen nach Spuren oder einer Waffe suchten.
»Rafael Allonis und Ihr beiden, ich bitte euch, mir zu folgen«, meinte James und musterte sie. Annabelle und Jason nickten zögernd, als sie dem Mann folgten.
»Was passiert jetzt?«, nuschelte sie und drehte sich zu Rafael.
»Wir werden nur befragt. Keine Sorge«, erwiderte er.

****

Annabelle, Jason und Rafael saßen in drei gläsernen Räumen, die aneinander grenzten und durch Glastüren mit einander verbunden waren. Es gab mehrere dieser im Kreis angeordneten, fünfeckigen Zellen, sodass alle Verhörten sich sehen konnten. Kein Ton drang an Annabelles und Jasons Ohren, als Maverick vor Rafael stand und ihn befragte. Von oben schien gleißend helles Licht herab, das ihnen in den Augen brannte. Jeweils ein Wächter hielt sich zusätzlich in ihren Glaskästen auf. Alle drei saßen auf einem Stuhl, der dem elektrischen Stuhl glich, auf dem Cecelia befragt worden war. Annabelle hatte sich panisch gewehrt, als man ihr befohlen hatte, sich darauf zu setzen. Zwar waren keine Drähte auf ihrer Haut befestigt worden, doch die silbernen Metallplättchen ließen sie Schlimmstes befürchten. Zwei stabile, metallene Schnallen fixierten ihre Handgelenke auf den Armlehnen und die Kanten schnitten grob in die Haut. Das Blut auf ihren Händen verschmierte den reinen Stein und ihr wurde übel, als der metallische Geruch in ihre Nase stieg.
Der marmorne Stuhl war eisig und die Kälte drang durch ihre Jeans. Überfordert sah Annabelle zu Jason, der genau wie sie auf einem der Stühle festgeschnallt war. Rafael sah nicht ein Mal zu Annabelle, sondern konzentrierte sich auf Maverick, der schräg vor ihm stand und ihn befragte. Zufrieden nickte der alte Allonis und schritt hinüber zu Jason. Dieser blickte ihn mit großen Augen an, als er zu sprechen begann. Zu gerne hätte Annabelle seine Worte verstanden, doch sah sie nur die Lippenbewegungen. Ihr Herz klopfte, während sie mit den Fingern über die glatte Lehne fuhr und nervös mit den Füßen wippte.
Sie sah Rafael, der beruhigend lächelte und leicht den Kopf schüttelte, als er ihre nervösen Bewegungen bemerkte. Sie hatte das Gefühl, er wolle ihr vermitteln, dass alles gut würde. Er wusste, sie hatte Cecelias Verhandlung gesehen, und vermutete zurecht, dass sie deswegen Angst hatte. Annabelle verspürte große Angst, ließ sie sich jedoch nicht mehr anmerken, als Maverick kurze Zeit später durch die Glastür zu ihr trat und Jason mit glänzender Stirn und schreckgeweiteten Pupillen zurückließ.
»Annabelle. Dein Freund, Jason konnte mir keine hilfreichen Informationen liefern, deswegen hoffe ich, dass du es kannst«
Quälend langsam schritt er vor sie und verdeckte Rafael, der sie mit Blicken durchlöcherte. Annabelle saß da, während Maverick sich bedrohlich aufbaute.
»Schildere mir doch deine Sicht der Dinge. Ich will hier nur die Wahrheit hören. Ich nehme an, du weißt, was passiert, solltest du lügen«, drohte Maverick.
Sie schluckte schwer. Obwohl sie keinen Grund zum Lügen hatte, zuckte sie zusammen.
»Ich ... als wir durch die Straßen gelaufen sind, habe wir einen Schrei gehört. Wir sind natürlich sofort hin gerannt«, begann Annabelle.
»Wieso seid ihr durch die Straßen gelaufen? Vor allem in dieser Gegend«, fragte er und verschränkte die Arme, sodass der schwarzer Umhang seinen Körper bis auf Brust und Kopf verdeckte.
»Rafael hat uns zufällig vor Alyntos gefunden. Er hat uns mit Elyas hergebracht. Ich nehme an, dass es dort eine Art Schlafplatz oder Stall für die Flieger gibt?«, erwiderte Annabelle.
Er nickte und wies sie mit mehrfachem Blinzeln an, fortzufahren.
Annabelle räusperte sich und fuhr fort:
»Dort haben wir auch Leila getroffen. Also, vor diesem Stall«
»Du kennst den Namen des Mädchens?«, fragte Maverick und studierte ihren Gesichtsausdruck.
Annabelle fühlte sich unwohl und nickte zögerlich.
»Rafael hat sie mit diesem Namen angesprochen. Jedenfalls haben wir kurze Zeit später den Schrei gehört, sind hingerannt und haben sie dort am Boden gefunden. Es gab noch einen Knall, aber der war ein paar Minuten früher. Ich bin zu Leila gerannt und habe gesehen, dass sie blutete«, erklärte sie und versuchte die Bilder aus ihrem Kopf zu drängen, doch als sie die Augen schloss, glaubte sie, erneut vor dem toten Körper zu sitzen und sich hilflos zu fühlen.
»Wo war dein Freund?«, fragte er.
»Jason hat versucht Hilfe zu holen, doch wollte keiner die Tür öffnen. Zum Glück kam James vorbei«, meinte Annabelle.
»Und mein Sohn?«, hakte er nach und lehnte sich nach vorn.
»Rafael ist in eine Straße gerannt. Ich nehme an, er hat jemanden gesehen«, erwiderte Annabelle und sah ihn verwirrt an. Sie hatte nicht erwartet, das Maverick seinem Sohn misstrauen würde. Seine verschärfte Aufmerksamkeit, als er nach Rafael fragte, fiel ihr jedoch auf.
»Hast du denn etwas gesehen? Einen Mann, eine Frau?«, fragte Maverick und kniff die Augen zusammen.
»Nein«
Sie sah Jason, der panisch mit dem Kopf schüttelte und schrie. Ein Mann in blauer Uniform stand hinter ihm und drückte seinen Kopf gewaltsam zur Seite. Er rüttelte mit Armen und Beinen, die sich durch die Schnallen kaum bewegen ließen.
Annabelle riss die Augen auf und schrie seinen Namen.
»Was machen sie mit ihm?«, brüllte sie und ruckelte wild an den Schnallen. Das Metall schnitt tief in ihre Haut, doch hörte sie nicht auf.
»Wir brauchen seine DNA, um mögliche Missverständnisse aus dem Weg räumen zu können. Auch in Zukunft, wird dies von Nutzen sein«, erwiderte Maverick und eine Tür öffnete sich. Hektisch versuchte sie den Kopf zu drehen, doch sah sie nur das Kopfteil. Sie hörte die langsamen Schritte und kalte Hände umgriffen ihren Hals. Sanft drückten die Hände gegen ihre Schädelseite. Jede Bewegung, die sie unternahm, scheiterte aufgrund der metallenen Fesseln. Sie keuchte, als sie die feine Nadel spürte, die sich in die Seite ihres Halses bohrte und die ersten Hautschichten durchdrang. Aus dem Augenwinkel sah sie Jason, zusammengesunken und den Kopf in ihre Richtung gedreht. Er hatte aufgehört zu schreien, doch sah sie die unverständlichen Lippenbewegungen. Sie spürte, wie Blut aus ihren Adern gezogen wurde. Gleichzeitig wurden ihre Glieder taub und kalt. Mit letzter Kraft reckte sie den Kopf nach oben und sah dunkelbraune Haarspitzen und grüne Augen, die sie musterten. Die Nadel tief in ihrem Hals spürte sie nicht mehr, als sie den Namen des Mannes murmelte:
»Lucas«

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