REISE II 4

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Maverick lächelte gezwungen, bevor er ihre Frage ignorierte und eine Gegenfrage stellte, die mehr nach einer Feststellung klang.

»Anna Camille Dumont ist mit dir verwandt?«

»Ja, sie ist meine Großmutter, doch ich verstehe nicht, was sie damit zu tun hat. Woher kennen sie Anna überhaupt?«, schoss sie hervor, ihr Gesichtsausdruck voller Fragen.

Maverick lehnte sich nach vorn und griff nach ihrem Kragen, um ihn zur Seite zu klappen. Die Kette vom Dachboden hing noch um ihren Hals und strahlte im hellen Licht noch klarer.

»Die Kette war in Annas Besitz, sie ist der Grund, weshalb du auf Eris gelandet bist. Die Kette ist nicht das einzige Stück, das du trägst, habe ich Recht?«, hakte Maverick nach.

»Nein ... Woher?«, stammelte sie und schob den Ärmel ihrer Lederjacke zurück.

Das silberne Armband mit metallenem Flügel umgab ihr Handgelenk.

»Hätte Anna dich aufgeklärt, wüsstest du, dass du niemals zwei Portalträger tragen solltest«, erwiderte Maverick und lehnte sich wieder zurück.

»Warten Sie, was sind Portalträger?«, unterbrach Annabelle ihn, bevor er weiter reden konnte.

»Richtig, die Anderen wurden aufgeklärt. Portalträger sind Objekte, wie diese Kette oder das Armband, die es dir erlauben, zwischen dieser Welt und deiner zu reisen. Alyntos liegt nicht auf deiner Erde«, erklärte Maverick und nippte an seinem Tee.

»Was?«, platzte Annabelle ungläubig hervor und musste unwillkürlich grinsen. Sie hatte den Vorfall im Wald, die Adler, auf denen Menschen flogen und den sogenannten Sprachmittler schon als äußerst merkwürdig empfunden, doch diese Aussage klang für sie am unwirklichsten. Sie hatte die Frau in Schwarz gesehen, die beeindruckenden Vögel und das Instrument, das den Sprachmittler in ihren Kopf schoss, doch sie glaubte nicht, zwischen zwei Welten gereist zu sein. Sie wollte fest daran glauben, dass dieses Erlebnis ein Traum war, und nicht, dass sie eine unmögliche Distanz mithilfe einer Kette überschritten hatte.

»Nein. Das ist ein Traum. Das ist nicht echt. Sie sind nicht echt«, beharrte sie und schüttelte den Kopf.

»Das hatte Anna auch gemeint«, lachte Maverick.

»Du siehst ihr ähnlich«, fügte er nachdenklich hinzu und musterte sie von Kopf bis Fuß.

»Euer Modegeschmack hat sich zum Glück verändert«, bemerkte er mit einem Schmunzeln.

»Wie alt war sie denn, als sie sich kennengelernt haben?«, fragte Annabelle.

»Sie war 17, zumindest laut eurer Zeit«, erläuterte Maverick, wobei Annabelle zwei Fragen in den Kopf schossen.

»Unserer Zeit?«

»Auf Eris vergeht die Zeit anders. Ein Tag auf Eris entspricht zwei Tagen auf der Erde«, erklärte er.

Für Annabelle klang jede Antwort absurder, doch bezweifelte sie zunehmend, zu träumen. Es fühlte sich zu real an, stellte sie fest. Ein Teil von ihr versuchte dennoch, weiterhin an einen Traum zu glauben, um im Notfall einfach aufwachen zu können.
Annabelle rechnete auf Mavericks Aussage die Zeit zurück, in der Anna 17 gewesen war und musste ihm zustimmen. Die Sechziger waren merkwürdige Modezeiten gewesen.

»Wenn ich wirklich mit dieser Kette nach Eris gereist bin, wieso bin ich dann nicht gereist, sobald ich mir die Kette umlegte?«, erwiderte Annabelle. Für sie klang seine Erklärung, als sei die Kette magisch und jeder könne sich einen solchen Portalträger umlegen, um zwischen den Welten zu reisen.

»Anna sagte mir, dass sie mit einem der Portalträger um ihren Hals einschlafen würde. Auf jedem der Portalträger findest du einen oder zwei Buchstaben, die entscheiden, wohin du auf Eris reisen wirst. Du hast jedoch zwei von ihnen getragen und bist genau zwischen den zwei Orten gelandet: im Peridon. Deswegen sollte man vermeiden, mehrere Portalträger zur gleichen Zeit tragen«, erklärte Maverick und bot Annabelle Tee an.

Annabelle schüttelte verneinend den Kopf und fragte:

»Peridon?«

»Der Wald. Er heißt Peridon«

»Gibt es noch mehr ... Wie mich?«, hakte sie nach, woraufhin er nur amüsiert grinste.

»Mehr? Es gibt Tausende. Wir nennen euch Reisende. Der Name dürfte zutreffen. Anna war nicht die einzige, die nach Eris reisen konnte. Es gibt tausende Portalträger auf eurer Erde. Die meisten werden sorgsam in Familien weitergegeben, doch viele gehen auch verloren, bis irgendein Narr sie findet. Es ist aber, wie du bemerkt hast, sehr gefährlich, wenn man blind auf Eris herum stolpert«

»Dieses düstere Wesen im Nebel, ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen. Und die Tiere sind so viel größer oder kleiner als auf der Erde«, bemerkte Annabelle und dachte wieder an die tapfere Maus, auf deren Rücken sie vor der Todesgestalt geflüchtet war.

»Jenes Wesen, wie du es beschreibst, ist ein Mensch. Es gibt viele von ihnen, man kann sie nicht zählen. Vor Jahrzehnten zog ein Sturm über Eris und Millionen von Menschen fielen einer Krankheit zum Opfer, die der Regen verbreitete. Wir nennen ihn den Schwarzen Regen. Die Krankheit hatte bei jedem unterschiedliche Auswirkungen und die Betroffenen entwickelten binnen weniger Stunden Fähigkeiten, mit denen sie Andere verletzen konnten. Sie flohen aus den Reichen, verließen ihre Familien, um sie nicht zu verletzen. Sie haben ihre Kräfte nicht unter Kontrolle. Der Regen betraf natürlich auch die Tiere, jedoch wirkte er sich nur auf ihre Größe und ihre Beute aus. Ich habe natürlich ein paar Details ausgelassen, wir haben ja nicht ewig Zeit«, schloss Maverick seine kurze Geschichte ab.

»Ich kann eine goldene Karte für dich organisieren, mit der du Zutritt zu unserer Bildungszentrale hast. Du kannst sie mit einer ... Bibliothek vergleichen«, fügte Maverick hinzu, indem er immer wieder zur Tür sah. Die beiden Wachen gaben ihm Handzeichen, die Annabelle nicht verstand.

»Oh Entschuldigung, wie du siehst ...«

»Ich habe nur noch eine Frage, Mister Allonis«, meinte Annabelle, als er sich verabschieden wollte, um nach dem Rechten zu sehen.

»Ja?«, kam es seinerseits, als er sich aufrichtete.

»Wie komme ich wieder nach Hause? Auf die Erde?«

»Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder du wachst nach deiner üblichen Schlafdauer wieder auf, bei dir umgerechnet 8 Stunden, oder du schläfst hier auf Eris ein. Du musst jedoch deinen Portalträger am Körper tragen«, erklärte Maverick und begann in Richtung der gestikulierenden Wachen zu laufen, ehe er sich schwungvoll umdrehte, um noch etwas zu sagen.

»Wenn du möchtest, kannst du dich ein bisschen in Alyntos umsehen. Mein Sohn, Rafael müsste bald hier vorbeikommen. Er könnte dich ein wenig herumführen. Auf Wiedersehen, Annabelle Dumont«, rief Maverick, als er die Glastür aufstieß und den beiden Wachen eilig die Stufen hinunter folgte.

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