Kapitel 1 - Tot tot tot

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Alle sitzen bereits auf den Bänken und es ist unglaublich still, stiller als vor jedem anderen Gottesdienst. Ich wünschte mir, dass die Menschen um mich rum lachen würden, sich miteinander unterhalten würden. Wenn sie das täten, würde sich das alles nicht so echt anfühlen, aber es ist echt. Meine kleine, liebenswerte Schwester ist tot, na ja kleine Schwester ist etwas übertrieben immerhin sind wir Zwillinge gewesen und ich hatte das Glück das Licht dieser undankbaren Welt ein paar Minuten vor ihr erblicken zu dürfen. Als der Pfarrer rein kommt hallen seine Schritte grausam laut in der Kirche wieder. "Liebe Gemeinde, wir haben uns heute zusammengefunden, um das Leben der erst sechzehn Jahre alten Isabelle McCleansly zu ehren. Der tot von Isabelle hat uns alle schwer mitgenommen und heute haben ihre Freunde und Verwandte die Chance noch ein paar letzte Worte an sie zu richten. Aber zuerst möchte ich euch erzählen wer Isabelle war. Sie war nicht nur geliebte Tochter und Schwester, nein sie war viel mehr!", ich blende unseren Pfarrer einfach aus. Ich will nicht hören wie er über unsere Issie redet, er hat sie schließlich nicht gekannt, nicht mal ich habe sie richtig gekannt. Issie hatte es schon immer einfach, sie hatte gute Noten, sah gut aus und kam mit jedem gut zurecht. Ich kann ihren tot nicht verstehen, ich kann nicht verstehen wieso sie sich das Leben genommen hat. Ihr fehlte es an nichts, sie hatte einen atemberaubend heißen Freund und sie war so beliebt. Ich weiß ein heißer Freund und Beliebtheit ist nicht alles, aber wenn es ihr doch so schlecht ging wieso kam sie denn nie zu mir? Sie konnte doch über alles mit mir reden! Warum um alles in der Welt hat sie es als leichter empfunden sich umzubringen als mit mir, ihrer Zwillingsschwester, zu reden. Wir haben uns neun verdammte Monate die Gebärmutter unserer Mama geteilt, wieso konnte sie sich denn dann nicht dazu aufbringen mit mir zu reden oder meinetwegen mit irgendwem anders?

Ich war die jenige die sie gefunden hat, sie lag in ihrem Bett, ich wollte sie eigentlich zum Essen holen. Es sah so aus als ob sie schlief. "Issie" , hatte ich zu ihr gesagt, "Mama hat Essen gemacht, steh auf." Sie lag mit dem Gesicht zur Wand. Ich ging zu ihrem Bett und wollte sie wach rütteln und als ich sie berührte war sie eiskalt und erst da sah ich die leere Tablettenpackung neben ihrem Bett. Ich rüttelte stärker an ihrer Schulter, packte sie mit beiden Händen doch sie rührte sich nicht. "Mama, Papa!" , schrie ich durchs ganze Haus immer und immer wieder und hörte ja nicht auf meine Schwester zu rütteln. "Issie wach auf! Bitte, du kannst mich doch nicht alleine lassen!" , ich weinte und schrie und zitterte am ganzen Körper. Meine Eltern kamen ins Zimmer gestürmt und mein Vater drängte sich an mir vorbei um an meiner Stelle Isabelle zu rütteln. Meine Mutter zog mich in ihre Arme und wog mich hin und her. Sie vergrub ihr Gesicht in meinen Haaren und ich flüsterte immer wieder: "Sie ist tot. Warum tut Iss so was? Sie ist tot Mama. Tot, tot, tot." Mein Vater hatte den Krankenwagen angerufen. Auch er weinte. Branden war bei unserer Oma gewesen und hatte von der ganzen Sache nichts mitbekommen, ihm blieb das alles erspart. Natürlich trauert er auch zumindest soweit das ein fünfjähriger Junge kann.

Ich spüre wie mir wieder Tränen über die Wangen fließen und meine Mutter nimmt mich schluchzend in den Arm. "Nun wird Isabells Schwester, Amanda, ein paar Worte über sie sagen.", höre ich den Pfarrer im Hintergrund sagen. Wie betäubt stehe ich auf und gehe nach vorne. Schräg vor Issies Sarg ist so etwas wie ein Rednerpult platziert an das ich mich Stelle. Ich räuspere mich und beginne zu sprechen: "Meine Schwester war alles für mich. Es fehlt mir und es tut weh, dass Issie und ich nicht mehr ein wir sind, jetzt bin ich nur noch ich und sie ist sie. Ich bin hier und sie im Himmel. Es ist doch komisch, bis jetzt haben wir alles zusammen durchgestanden, wir haben uns eine Gebärmutter geteilt, ein Zimmer für die meiste Zeit unseres Lebens und so vieles mehr. Alles was wir zusammen erreicht haben, geschah durch die Hilfe des anderen. Wir haben uns beim Fahrrad fahren ermutigt die Stürtzreder abzunehmen, haben uns gegenseitig dazu angespornt mehr für die Schule zu lernen und wir haben die andere immer beschützt vor Rüpeln und vor Liebeskummer und vor Schürfwunden und wenn es dann doch zu spät war und der Rüpel einen in den Dreck geschubst hat, einem das Herz gebrochen wurde oder wir vom Fahrrad gefallen sind haben wir den Rüpel für die andere zurück geschubst, die andere mit Eis getröstet oder ein Pflaster auf die Wunde geklebt, wir waren für die jeweils andere eine Stütze, doch meine Stütze ist jetzt weg. Ich meine klar ihre Stütze auch aber sie hat sich so entschieden, ich hatte keine Bedenkzeit, es kam so plötzlich. Ich bin so unglaublich sauer auf meine Schwester, wie konnte sie nur? Klar sie hatte sicher ihre Beweggründe aber was ist mit mir? Ich liebe sich über alles aber das war echt egoistisch, aber man soll ja nicht schlecht über tote reden also sorry Iss." Ich lache trocken auf, das ist doch alles völliger Irrsinn. "Aufjedenfall ist meine Stütze jetzt weg und ich weiß nicht wie ich mein Leben ohne Issie, ohne meine Stütze, meine Schwester bewältigen soll. Wer schubst denn jetzt Rüpel für mich, isst Eis mit mir oder klebt mir Pflaster auf, wer Hilft mir in der Schule oder ermutigt mich zum Training zu gehen wenn ich mal einen schlechten Tag hatte? Issie auf  jeden Fall nicht mehr."

Ohne meine kleine SchwesterWhere stories live. Discover now