Eine Geschichte

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Es war ein heißer Tag gewesen und die Sonne hatte gnadenlos vom Himmel gebrannt. Bekümmert betrachtete Sun den Sonnenbrand auf ihren Armen, als sie bei Sonnenuntergang das letzte Netz einholte. Ihre Namensvetterin am Himmel hatte es nicht gut gemeint mit ihr, dachte sie bei sich, während sie das Netz auf den gebleichten blauen Planken des Floßes ausleerte.

Auf diesem Floß, das fast vollständig aus wiederverwertetem Plastik bestand, war sie geboren worden und aufgewachsen. Sie kannte nicht viel anderes als das tiefe, glitzernde Meer, das sich am Horizont mit dem weiten Himmel vereinte, die meist glühende Sonne und ihr recht beengtes Floß, auf dem sie mit ihrer Familie lebte.

Während sie den Fang sortierte, summte sie leise vor sich hin. Er war weder besonders gut, noch besonders schlecht, vor allem mittelgroße Plastikteile, welche sie als Brennstoff verwendeten oder einschmolzen und dadurch recyceln konnten. Größere Teile legte sie beiseite, die sollte ihr großer Bruder sich anschauen und entscheiden, was damit zu tun sei. Als sie fertig war, sammelte sie die kleinen und mittleren Teile in einen aus Plastikstreifen geflochtenen Beutel und brachte sie zu ihrer Großmutter ans Feuer, welches sich in der Mitte des Floßes in einem eiserenen Kessel befand, einer der wenigen Dinge auf dem Floß, das nicht aus Plastik bestand.

Ihre Großmutter brummte freundlich, nahm sich einige Teile heraus und warf sie ins Feuer, um es heißer zu machen. Dann deutete sie auf das Tuch, welches um Suns Hals hing und sie nickte und zog es sich über Mund und Nase. Beim Verbrennen von Plastik entstanden giftige Dämpfe, die einen ersticken ließen, wenn sie in die Lunge gelangten. Ihre Mutter war eines Tage zu unvorsichtig gewesen und hatte ihr Gesicht ohne Tuch über das Feuer gehalten. Wenige Minuten später war sie tot gewesen.

Als die Sonne vollständig untergegangen war und das Feuer die einzige Lichtquelle darstellte, abgesehen vom fahlen Licht des Mondes, versammelten sich Sun und ihre Familie um den Feuerkessel. Eine Schüssel mit salzigem Fisch und eine mit gebratenen Algen ging herum, ebenso wie mehrere Flaschen aus angelaufenem Plastik, in welchem Frischwasser war, das über den Tag durch Kondensation aus Meerwasser entstanden war.

Eine Weile aßen sie schweigend. Sun bemerkte, wie ihre ältere Schwester Moon über ihren dicken Bauch strich. Ihr Mann, den sie sich im letzten Hafen geangelt hatte, legte einen Arm um ihre Schultern.

„Hätte irgendjemand vor einem halben Jahr gesagt, dass ich bald zu den Plastikfischern gehören würde, hätte ich ihn ausgelacht", meinte er und sah Moon dabei zärtlich an.

„Und jetzt sieh dich an...", gab sie zurück und einer ihrer Mundwinkel zuckte.

Suns Vater hatte die Konversation schweigend aus zusammengekniffenen Augen verfolgt. Vorsichtshalber zog Sun die Schultern hoch. Sie wusste nie, ob er im nächsten Moment schimpfen oder lachen würde. Ihre Großmutter hatte ebenfalls den Blick ihres Vaters bemerkt und legte sanft ihre runzlige Hand auf seinen Arm. Er schien sich ein wenig zu entspannen.

„Wisst ihr, wieso wir ‚Plastikfischer' genannt werden?", fragte sie und sah in die Runde. Sun erschrak ein bisschen, wie schwach und rau ihre Stimme klang, sie schien von Tag zu Tag schlechter zu werden, versuchte aber, sich nach außen hin nichts anmerken zu lassen. Dann erst dachte sie über die Frage nach und stellte fest, dass sie keine Ahnung hatte.

Etwas ratlos sah sie ihre älteren Geschwister an und stieß auf Kopfschütteln und Achselzucken. Nur ihr Vater wirkte nicht ratlos, sondern eher etwas verärgert. Er zog seinen Arm zu sich, was dazu führte, dass die Hand ihrer Großmutter herunterrutschte.

„Laura, ich bitte dich, muss das sein?", fragte er mit leicht erhobener Stimme. Gespannt sah Sun zu ihrer Großmutter, sie hatte noch nie gesehen, dass die sich irgendetwas hatte sagen lassen. Im Gesicht ihrer Großmutter herrschte eine gewisse Stille. Ruhig sah sie ihren Schwiegersohn an.

„Unsere Vergangenheit stellt einen wichtigen Teil unserer Identität dar", erwiderte sie mit ihrer rauen Stimme, „nur wenn wir wissen, woher wir kommen, können wir verstehen, wer wir sind."

Nach einem letzten, vielleicht etwas strengen Blick auf ihren Vater, sah ihre Großmutter Sun und ihre Geschwister an.

„Also, weiß es irgendjemand? Hat niemand eine Idee?" Nach kurzem Schweigen nickte sie, als hätte sie das schon erwartet.

Sie räusperte sich kurz, dann fing sie an zu erzählen: „Es gab eine Zeit, da war ich selber noch nicht geboren, als es in den Meeren kein Plastik gab, kein einziges, winziges Stück..."

Sun runzelte die Stirn, angestrengt versuchte sie sich ein Meer ohne Plastik vorzustellen... und scheiterte. Ihren Geschwister schien es ähnlich zu gehen. Jarl, der Mann ihrer Schwester, der auf dem Festland aufgewachsen war, schüttelte den Kopf.

„Das kann nicht sein", widersprach er, „das denkst du dir doch aus..."

Die Augen ihrer Großmutter wanderten zu ihm, doch sie schien ihn nicht zu sehen, nicht wirklich, sondern in eine längst vergangene Zeit zu blicken.

„Auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst, war es so."

Sun konnte sich nicht mehr zurückhalten: „Wie war es damals? Wie sah das Meer aus?" Ihre Großmutter lächelte sie an.

„Es war wunderschön. Es wimmelte nur so vor Leben, ganz kleinem und ganz großem. Irgendwann werde ich euch mal erzählen, was ein Wal ist, und Krill. Das Meer war voll von Fischen. Auf dem Meer fuhren Boote, aus Holz oder Metall, und warfen Netze aus, um die Fische im Meer zu fangen. Die Menschen, die das taten, nannte man Fischer."

Sun merkte, dass sie die Luft angehalten hatte. Unwillkürlich blickte sie auf das Stück Fisch, das sie in der rechten Hand hielt. Sie züchteten die Fische in einem großen Bottich an einem Ende des Floßes, ebenso wie die Algen. Das Wasser in den Bottichen stellten sie so her, wie das Frischwasser, das sie tranken. Die Vorstellung, dass diese Fische einmal im Meer gelebt hatten, erschien ihr völlig absurd.

Ihre Großmutter setzte wieder an: „Im vergangenen Jahrhundert, das keiner auf diesem Floß erlebt hat, war Plastik als großer Fortschritt gefeiert worden. Er wurde für alles Mögliche eingesetzt. Dass es Jahrtausende dauert, bis sich dieser Stoff wieder abgebaut hat, daran hat niemand gedacht..."

Sie blinzelte ein paar Mal, ihre Schultern waren nach unten gesunken. Traurig blickte sie in die Runde.

„Aber Nonna", wandte Sun ein, „wie ist denn dann das ganze Plastik ins Meer gekommen?"

„Durch Dummheit, mein Kind", antwortete ihre Großmutter, „durch Dummheit und Unbekümmertheit und Kurzsichtigkeit der Menschen."

Die PlastikfischerWhere stories live. Discover now