Der Mann im Rollstuhl

31 1 0
                                    

Voll war der Bahnsteig. Sehr sehr voll.

Er war hier jeden Tag. Jeden Tag quälte er sich durch die Menschenmassen am Stuttgarter Hauptbahnhof.
Sie nahmen gar nicht wahr, wie beschwerlich seine Reise jeden Morgen ist. Die Hindernisse, die einem immer wieder begneten.

Kanten. Überall Kanten und Bordstein. Erhebungen und Steine. Kiesel, die sich in den Rädern verfingen und die es schwer machten weiter zu kommen.

Seine rauen Hände, und Schwielen vom Schieben seines Rollstuhls dessen Elektrik immer wieder versagte.

Er war Professor für Sportwissenschaften an der Universität. Lange hatte er nur für seine Bildung und seine Karriere gelebt. Keine Familie gehabt, weil alles mit dem er sich identifizierte sein Kopf war. Seine Fähigkeiten. Sein Intellekt, der es ihm möglich gemacht hatte Sportwissenschaften, Philosophie und Psychologie gleichzeitig zu studieren.

Er war er durch und durch agiler und sportlicher Mensch gewesen. Lebte in einer 4 Zimmer Wohnung, nahe der Universität. Stand jeden Morgen um 5 Uhr auf, machte sich einen Kaffee und genoss seinen morgendlichen Lauf auf den Feldern vor Stuttgart. Dann zog er sich die verschwitzen Klamotten aus, nahm eine kalte Dusche, belegte sich ein Schwarzbrot. Er kleidete sich adrett und sorgsam mit Hemd und Hose, legte seine teure Armbanduhr an und fuhr mit der S-Bahn zur Universität um seine geliebten Studenten zu unterrichten.

Doch jetzt war alles anders. Der Unfall hatte alles verändert und doch so wenig. Sein Leben ging immer noch die selben Bahnen. Er nahm die selben Bahnen zur Universität. Schüler kamen und gingen. Neue Semester mussten in Gesundheitslehre, Anatomie und Biochemie unterrichtet werden. Immer der selbe Trott, jeden Tag. Nur er hatte sich verändert. Sein Körper. Sein leistungsfähiger, gesunder Körper war von einem auf den anderen Tag ein beschwerliches Stück Fleisch geworden, was seinen Geist am Boden hielt und ihm wie eine Gefangniszelle, der Freiheit beraubte.

Es war so beschwerlich geworden, jeden Tag sein Leben. Alles war so viel beschwerlicher. Und jetzt bereute er es, dass es die Arbeit war, die ihm seine Freude gebracht hatte. Nicht seine Familie oder seine Freunde. Jetzt war keiner da.

Seine Arbeit verrichtet er weiter hin. Doch wenn er seinen Studenten von Traininglehre und Regenerationsphysiotherapie erzählte, schmerzte sein Herz immer mehr und der verlorene Lebensmut schien ihn innerlich zu zerreißen. Er konnte seinem Schicksal nicht entgehen, da er jeden Morgen auf schmerzhafte Weise drauf hingewiesen wurde, wie hilflos er war, wenn er sich aus dem Bett quälte um zu bemerken, dass er seine Beine nicht mehr benutzen konnte und sie funktionslos einfach nur an seinem müden Körper hingen.

Immer mehr kroch die Frage aus seinem Hinterkopf, für was er eigentlich lebte. Er lebte für sich. Für seine Gesundheit, seinen Geist. Doch all dass war ihm beraubt worden auf grausamste Art und Weise.

Er stöhnte, als er wieder einmal, angezogen vor den Treppen zur unterirdischen Eisenbahn saß, und schwermütig seinen Rollstuhl zum Aufzug schob.
Wozu? Wozu leben, wenn der eigentliche Lebnszweck verschwunden war. Wozu all die Anstrengung und Qualen jeden Tag, wenn keine Hoffnung auf Besserung bestand. Wenn es nichts gab, was man anstreben könnte. Was wäre dann?
Was, wenn er der Auffassung war, ein Leben sollte nur durch Erfüllung eines Traumes, gelebt werden und nicht nur eine reine Abarbeitung von Pflichten sein. Was wenn er sein Leben nicht mehr lebenswert fände?

Jeden Tag verdrängte er solche Gedanken, aber heute schaffte er es nicht mehr. Die Ignoranz der Menschen um ihn herum war keine Ignoranz. Sie wussten es nicht besser, denn der Augenscheinlich Eindruck, der Professor im Rollstuhl hätte sein Leben noch im Griff, trügte. Ja, er ging immer noch seiner Arbeit nach. Ja, er pfelgte immer noch intellektuelle Konversation. Und ja, er trug immer noch Hemd und Krawatte. Doch sein Lebensmut lag weiter hinter ihm. Ganz weit weg, und er war Gefangener seines Körpers. Nicht nur seines Körpers, auch seines Geistes, der der Realität nur ins Auge sehen konnte. Er hielt nicht viel von Beschönigungen. Er war ein Rationalist.

Gefährlich nahe bewegte er seinen Rollstuhl an den Abgrund zu den Schienen. Gefährlich weit, überrollte er die weiße Linie, die am Bahnsteig den sicheren Bereich kennzeichnete. Gefährlich nahe kamen seine Reifen dieser Kante. Gefährlich toxisch waren seine Gedanken an dem Morgen, die ihn über den Abgrund ziehen wollten.

Menschen tuschelten. "Spinnt denn der? Wie kann er so nahe an den Rand fahren. Wie kann man nur so unvernünftig sein" Sich aufzuregen war immer einfacher als sich zu sorgen.

Gefährlich unwissend, waren sie und gefährlich nahe, war der Zug dem Hauptbahnhof. Gefährlich unaufmerksam, waren die Mitarbeiter der deutschen Bahn und die Studenten, deren Nebenjob es war immer wieder zu überprüfen, ob alle reibungslos in die haltende Bahn eingestiegen waren. Gefahrlich war diese Stimmung der Unwissenheit und Unsicherheit.

Ich wusste nicht, ob er dieses Spiel aus Unvernunft spielte. Aus dem draufgängerischem Impuls, Adrenalin durch seine Adern zu pumpen. Ich sah ihn und ich sah seine hängenden Schultern. Seinen müden Blick und ich wusste: egal wie ernst die Situation war, sie musste beendet werden. Es durfte uns nicht egal sein. Kein Mensch sollte egal sein.

Mit klopfendem Herzen, wohl wissend, dass mich alle Menschen, die in ihren täglichen Runden nicht gestört werden wollten, beobachteten und sich fragten, wieso ich mich so anstelle. Wieso ich in die Privatsphäre dieses Mannes so weit eintrat. Wieso ich Dinge uns Hintergründe annahm, für die es keinen Grund gab.

Ich wusste, dass es keinen Grund gab anzunehmen, dass dieser Mann mit dem Gedanken spielte sich das Leben zu nehmen.

Aber falls dies tatsächlich so wäre, dann müsste man handeln. Nicht nur für ihn, sondern auch für alle Menschen und alle Kinder, alle Schüler und Studenten, Rentner und Führungskräfte und Mitarbeiter und Zugführer. Auch für sie alle, um ihnen den schrecklichen Anblick der visualisieren Verzweiflung und diesem purem Horror zu entgehen, Zeuge zu werden von einer Handlung, die kein Mensch je verstehen noch verkraften könnte.
Der Invertierung aller natürlichen Lebensinstinkte, durch solche Gedanken, wie sie nur die schlimmsten Schicksale gebären könnten.

"Entschuldigen Sie mich", sagte ich, und der Mann zuckte zusammen, als ich ihm auf die Schulter tippte.
"Wir haben Angst um Sie". Ich schaute kurz zu den anderen Pendlern und Reisenden, die größtenteils zu uns schauten. "Wir haben Angst um sie", wiederholte ich. "Könnten Sie vielleicht ein weniger weiter weg von den Gleisen warten? Ich mache mir Sorgen, dass sie herunterfallen"

Der Mann sagte nichts. Er schaute mich kurz an. Schwieg. Aber dann fuhr er langsam zurück. Ich atmete auf, und eilte mit klopfendem Herzen weg aus dieser Situation, die mir so sehr Angst machte.

Als ich schließlich im Zug einen Platz gefunden hatte, schlug mein Herz immer noch so schnell, dass ich es gegen meinen Brustkorb hämmern hörte.

Contact - eine Feier der MenschlichkeitWhere stories live. Discover now