XXVI

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Ihr Schweigen hielt an. In den folgenden Tagen hörte man kaum ein Wort aus dem Munde der Laliamon. Wurde sie etwas gefragt, so waren ihre Antworten stets einsilbig und meist begleitet von einem gleichgültigen Heben der Schultern. Sie verließ ihr Zimmer kaum, oft hockte sie im Licht der Kerze an dem hölzernen Schreibtisch.

Man sorgte sich um sie. Charles, dem sie vermied, unter die Augen zu treten. Martha, der sie immerhin ein trauriges Lächeln schenkte. Sogar Phillip Villiers, der seiner Tochter aus dem Weg ging. Laliamon würde heiraten, doch wie eine Braut verhielt sie sich nicht.

Seit der Unterredung mit Maddison Mills war ihr Kummer nur stärker geworden. Immerzu dachte sie an Orion. Ob er ihren Brief erhalten hatte? Wie konnte sie ein Leben in Ehe mit Charles führen, wenn ihr der junge Mann nicht aus dem Herz gehen wollte? Wenn Laliamon die Augen schloss, sah sie ihn vor sich. Jedes Detail seines Gesichtes, so deutlich, so unverwechselbar. Wie er sein tiefes Lachen lachte und seine weißen Zähne dabei aufblitzten – wie seine Augen. Er fehlte ihr so sehr.

Und dann kam der Tag, an dem Laliamon ihr Schweigen brechen musste. Spätestens wenn sie in einigen Stunden vor dem Altar in der geschmückten Kirche stehen würde und alle Anwesenden ihrem Eheversprechen lauschen wollten. Sie wusste noch immer nicht, welche Worte sie wählen sollte. Jedes kam ihr vor wie ein Verrat. Verrat an Orion, an Charles und nicht zuletzt auch an ihr selbst.

Früh am Morgen – die Sonne kletterte gerade hinter dem Horizont hervor – war Laliamon in den Garten gegangen, um ihr dabei zuzusehen. Waren erst all die anderen erwacht, so würde sie an diesem Tag sicher keine Ruhe mehr finden. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ sich von den Sonnenstrahlen die Nase kitzeln.

Die Ruhe vor dem Sturm, dachte sie und musste lachen. Jetzt werde ich wahnsinnig.

Orion hatte noch immer nicht auf ihren Brief geantwortet, obwohl er ihn mittlerweile erhalten haben musste. War das Ausbleiben einer Antwort verwunderlich? Sicher nicht. Und sicher war es auch besser. Laliamon konnte sich eine mögliche Reation sehr wohl ausmalen. Das Nichtwissen war erträglicher als das Wissen.

Verstohlen schielte sie zu Papier und Feder hinüber, die sie neben sich abgelegt hatte. Sie hatte ein Vorhaben für den Morgen. Es war Zeit, den letzten Teil ihrer Geschichte niederzuschreiben. Denn – da war Laliamon sich sicher – sie würde heute zu einem Ende kommen. Mit schwerem Herzen dachte sie an all die Abenteuer, von denen sie geglaubt hatte, sie noch zu erleben. Das Fliegen. Das Lachen. Orion. Sie fühlte sich, als hätte sie all dies verloren, ohne es je wirklich gehabt zu haben. Also nahm sie die Feder und schrieb ein Ende für eine Geschichte, die noch gar nicht begonnen hatte.

Während Laliamon schrieb, stieg die Sonne immer höher. Sie hatte sich in dem traurigen Ende ihrer Geschichte verloren. Es niederzuschreiben, war so viel einfacher, als es zu durchleben. Laliamon war unsicher, ob die Worte auf dem Papier genügten, um das Vorgehen in ihrem Inneren zu beschreiben. Würde, wer diese Zeilen läse, ihr Leid um den Verlust ihrer Zukunft verstehen?

Und dann, als das letzte Wort geschrieben war, nahm sie den Berg von Papier hoch, der seit ihrer ersten Nacht in Brittlemoor, in der sie ihre Geschichte begonnen hatte, stetig gewachsen war. Aus dem Schreibzimmer ihres Vaters hatte sie einen besonders großen Briefumschlag entwendet, wie er sie verwendete, um große Bündel wichtiger Niederschriften an seine Geschäftspartner zu schicken. Sorgfältig steckte sie die Blätter in den Umschlag und verschloss ihn. Einen Moment lang betrachtete sie das Schreiben, dann setzte sie die Feder an und adressierte es an Orion.

Es war ein Akt der Selbstsüchtigkeit. Ob das Geschriebene Orion half, mit dem Geschehenen abzuschließen? Wohl kaum. Doch Laliamon war, als müsse sie ihm diesen Brief zukommen lassen, um selbst einen Abschluss zu finden.

Dann ging sie wieder hinauf in ihr Zimmer und platzierte den Umschlag auf dem Tisch. Sie würde warten müssen, bis Hayden wiederkehrte.

Er lag noch am Nachmittag dort. Laliamon trug das Kleid. Das Kleid, das vor wenigen Tagen zu ihrem Hochzeitskleid erklärt worden war. Martha formte mit nervösen Fingern aus den lockigen Haaren der Laliamon eine elegante Flechtfrisur.

Laliamon saß in einem separaten Raum vor einem gigantischen Spiegel. Die Pearsons hatten ihr eine Dame schicken wollen, die sich darin verstand, aus einem einfachen Mädchen eine bildschöne Frau zu machen. Doch Laliamon hatte darauf bestanden, dass es Martha war, die ihr die Haare machte und das Puder auflegte. Die Dienstmagd war vor Rührung errötet und hatte sich verstohlen eine kleine Träne aus dem Auge gewischt.

Auch für sie war es ein bedeutender Tag. Laliamon, das Mädchen, das für sie beinahe eine Tochter war, würde heute nicht nur heiraten. Nein, sie würde auch das Anwesen verlassen.

„So ..." Martha ließ die braunen Haare sinken und trat einen Schritt zurück. „Meine Arbeit ist getan."

Mit einem Lächeln drehte Laliamon sich zu ihr herum. „Eine letzte Bitte habe ich noch."

Sie streckte Martha ihre Hand entgegen. „Ich weiß, es ist eine Brosche, aber könntet Ihr sie wohl meiner Frisur beifügen? Bitte."

Martha schloss die Augen. In der Hand der Laliamon lag die Drachenbrosche. Die Brosche ihrer Mutter. Rose.

Tiere des TeufelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt