23. Weihnachten

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»Möchtest du etwas essen?«, fragte Jerry, während er mich durch den verlassenen Festsaal der Villa führte. Der Banketttisch bog sich förmlich unter der Last an Köstlichkeiten, die hier für die Weihnachtsfeier aufgereiht worden waren. Ich fragte mich bloß, wer das alles essen sollte; schon die eine mühlradgroße Schale Paella hätte eine ganze Baseballmannschaft satt gemacht. Angeknabberte Maiskolben und eine umgestoßene Saftkaraffe zeugten davon, dass die Feiernden das Mahl überstürzt unterbrochen hatten. Ich zählte nicht mehr als vier benutzte Teller, aber es war für ein gutes Dutzend gedeckt.

»Nein danke«, sagte ich. »Vielleicht später.«

»Die anderen sind im Attikageschoss«, sagte Jerry, ohne Erklärung, was das sein sollte. Ich hatte allerdings auch keine Lust zu fragen, denn Jerry liebte alles, was mit Architektur zu tun hatte, und wenn er einmal ins Schwärmen geriet, war er nicht mehr zu stoppen. Ich würde es sowieso gleich sehen. Wir stiegen über eine schmale Wendeltreppe in eine Zwischenetage oberhalb des ersten Stocks des Gebäudes, die mir zuvor nicht aufgefallen war. Unser Kommen wirbelte Staub von den Holzdielen auf, der den fahlen Schein der einzigen Lichtquelle flimmern ließ, einer Grubenlampe, die mit Nägeln behelfsmäßig an der Wand befestigt war. Die Decke war so niedrig, dass der lange Jerry den Kopf dauerhaft neigen musste, um überhaupt in den kleinen Raum hineinzupassen. In der hinteren Ecke hockten Evelyn, Blix und Husar auf dem Fußboden. Der Hacker hörte sich mit gerunzelter Stirn etwas über Kopfhörer an, die anderen beiden beugten sich über die Karte der Insel, die ursprünglich im Salon gehangen hatte.

Als sie uns bemerkte, heiterte Evelyns Miene auf, und selbst Blix konnte seine Erleichterung nicht verbergen.

»Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist«, sagte Evelyn und klopfte mir auf die Schulter.

»Abwarten«, brummte Blix. »Wir wissen noch nicht, wie viel sie wissen. Hattest du deine AR-Brille auf?« – Ich schüttelte den Kopf. – »Dann auf die altmodische Art. Erzähl alles, was passiert ist, von Anfang an.«

Ich berichtete also, wie der andere Shifter mich erkannt hatte, wie er erfuhr, dass K noch am Leben war, und wie er mich in einem plötzlichen Sinneswandel vor den Agenten der Tagwacht gewarnt hatte. Natürlich log ich bei der Frage, warum ich überhaupt in diesem Teil der Stadt herumgestromert war, und behauptete, nur wegen dem Weihnachtsmarkt dort hingefahren zu sein. Blix ließ mich meine Geschichte noch einige Male wiederholen. Am meisten interessierte ihn mein Gespräch mit L. Auch hier ließ ich einige Details aus und verschwieg die Ereignisse im Pub ganz.

»Was denkst du?«, fragte Evelyn, nachdem sich der Detektiv eine Weile schweigend gegen die Wand gelehnt hatte.

»Ich glaube, dass wir vorerst sicher sind. Es gibt keine Verbindung zu uns oder Narcisa. Ich verstehe nur nicht ganz, warum dieser L erst die Tagwacht ruft und es sich dann doch anders überlegt.«

Ich wich seinem Blick aus und sah herüber zu Husar. Er teilte mein Geheimnis, wusste, was ich an diesem Ort gesucht hatte. Und wenn die Kinder der Saat genauer hinsahen, würden sie feststellen, dass ein junges Kirchenmitglied namens Narcisa Kaufmann erst vor wenigen Wochen zu den Eltern einer ihrer Shifter geschickt worden war, und dass Narcisas Eintritt in die Gemeinschaft kurz auf meinen Autounfall folgte. Ich konnte nur hoffen, dass Ls Akt der Barmherzigkeit kein Einzelfall blieb und der Kirche gegenüber kein Sterbenswörtchen davon verlor, was zwischen uns gesagt worden war.

»Leider ist Melquist in ernster Gefahr«, fuhr Blix fort. »Er wird untertauchen müssen.« Er hatte Recht. Die Kirche würde meinen Gastgeber in die Mangel nehmen, nun da sie Gewissheit besaßen, dass ich das Feuer im Tunnel überlebt hatte.

»Es ist alles vorbereitet«, meldete sich Husar zu Wort. »Der Venator startet vor Morgengrauen, Melquist und seine drei Kinder sind bereits unterwegs zum Startplatz.«

Ich bin KWo Geschichten leben. Entdecke jetzt