Kapitel 88: offene Karten

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„Warum antwortest du ihm nicht?" Dama gab mir den Brief zurück. Es hatte mich einiges an Überwindung gekostet, ihr den Brief zu zeigen, aber ich hatte einfach einen Rat gebraucht. „Denkst du denn, das ist eine gute Idee? Ich meine, ich bin doch gar nicht fähig, eine Beziehung zu führen", bekannte ich ihr meine Angst und nahm das Stück Papier vorsichtig in meine Hand, als könnte es unter meiner Berührung zerbröseln.

Damaris sah mich aufmerksam an. „Wenn du keine Angst hättest, Laura, würdest du dich für eine Beziehung mit ihm entscheiden?"

Ich wedelte aufgebracht mit den Händen in der Luft herum, auf der Suche nach Worten. „Ich...darum geht es doch gar nicht."

Dama legte den Kopf schief und musterte mich. „Um was geht es dann?"

Ich gab einen genervten Laut von mir. Hatte ich das nicht eben schon deutlich gesagt? „Es geht hier nicht um das was ich will! Es geht darum, dass ich es nicht kann." Verstand sie mich wirklich nicht, oder auf was wollte sie hinaus?

„Okay, ich erzähle dir jetzt etwas sehr persönliches, in der Hoffnung, dass es dir hilft."

Ich runzelte irritiert die Stirn und lehnte mich wieder etwas zurück „Okay."

Sie stellte ihre Tasse vor sich auf den Tisch und atmete tief durch. „Als Kind hatte ich unheimlich viele Ängste. Ich hatte Angst, Dinge auszuprobieren ich hatte Angst vor dem Unbekannten, vor der Dunkelheit, oder zum Beispiel davor, alleine zu schlafen. Als ich älter wurde, änderte sich nicht viel daran. In meinen Teenagerjahren bekam ich manchmal richtige Panikattacken. Ich hatte oft Albträume und traute mich nicht, alleine mit der Bahn zu fahren, oder fremde Leute anzusprechen. Ich war der festen Überzeugung, dass ich niemals fähig sein würde, mein Leben zu meistern. Diesen Gedanken hatte ich schon sehr früh", Damaris fuhr nachdenklich mit dem Finger über den Rand ihrer Tasse. Nun richtete sie ihren Blick wieder auf mich und ich spürte, dass sie sich gerade sehr verletzlich machte vor mir.

„Mein Vater hatte meine Familie früh verlassen und meine Mutter hatte sehr zu kämpfen damit, sie war einige Jahre lang depressiv. Das habe ich damals aber nicht begriffen." Sie seufzte. „Naja, jedenfalls hatte ich große Probleme damit, Freunde zu finden und war deshalb sehr einsam. Ich dachte, ich würde niemals fähig sein eine Beziehung zu führen, zumindest nicht solange ich mein Problem mit den Panikattacken nicht überwunden hätte. Als ich studieren ging, hatte ich immer noch damit zu kämpfen und das tue ich manchmal noch heute." Sie beugte sich vor.

„Was ich eigentlich sagen will ist, es macht keinen Sinn, darauf zu warten, dass man Okay ist oder dass man keine Angst mehr hat, bevor man etwas wagt, sondern es geht darum etwas einfach zu tun, obwohl man Angst hat und sich vielleicht nicht bereit fühlt. Die Wahrheit ist nämlich, dass man sich in manchen Dingen niemals bereit fühlt, bevor man die Sache nicht einfach macht. Zu dieser Erkenntnis musste ich auch erst mal kommen, als ich meinen jetzigen Mann schließlich kennen gelernt habe." Ein leichtes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und sie schüttelte ihren Kopf, offensichtlich in Erinnerung an diese Zeit.

„Die Realität ist, dass wir alle unsere Laster haben und Dinge, an denen wir arbeiten müssen, Prozesse, die wir durchlaufen müssen. Wenn wir alle darauf warten würden dass wir das alles überwunden haben, bevor wir eine Beziehung eingehen, dann wäre niemand bereit dazu." Damit griff sie nach ihrer Tasse und trank ein paar Schlucke, ließ mir Zeit, über ihre Worte nachzudenken.

Ich spürte, wie etwas Hoffnung in mir aufglomm, was mich nervös machte. „Also denkst du, ich sollte ihm antworten?"

„Ich habe ein paar Fragen für dich, um selbst auf eine Antwort auf diese Frage zu kommen." Sie stellte ihre Tasse wieder ab. „Vermisst du ihn?"

Augenblicklich traten mir die Tränen in die Augen. Ich wandte hastig den Blick ab. „Okay", sagte sie behutsam. „Ist er gut mit dir umgegangen? Hat er sich bemüht, dein Herz zu erobern?"

Erinnerungen an unser erstes und letztes Date kamen mir ungebeten vor Augen. Ich nickte. „Hat sich etwas an deinen Gefühlen für ihn verändert, nach der langen Zeit, die vergangen ist, in der du ihn nicht gesehen hast?"

Dieser Frage war ich ständig ausgewichen und hier saß ich nun und konnte ihr nicht mehr ausweichen. „Ich wünschte, ich könnte ja dazu sagen", flüsterte ich.

„Dann geht es jetzt nurnoch darum, ob er das Risiko wert ist", beendete Dama ihre Befragung. „Denk darüber nach. Rede mit Gott darüber."

„Kannst du für mich beten, dass Gott mir zeigt, was ich tun soll?"

„Das kann ich sehr gerne tun", Dama lächelte mich liebevoll an und beugte sich zu mir.

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'Was soll ich schreiben Gott?' Es war mitten in der Nacht, ich saß an meinem Schreibtisch, meine kleine Lampe die einzige Lichtquelle. Schreib einfach, mein Schatz, spiel mit offenen Karten.

Ich atmete tief durch. 'Bitte hilf mir die Worte zu finden', flüsterte ich. Und dann schrieb ich einfach.

Lieber Jannis

Dein Brief hat mich sehr überrascht und dir zu antworten ist eine große Überwindung für mich. Ich lerne gerade zu vertrauen, und es mir zu erlauben, schwach zu sein. Es fällt mir schwer, mich nicht zu verstecken. Du hast das sehr früh instinktiv gemerkt. Dass ich mich verstecke. Bitte lass es mich nicht bereuen, mit diesem Brief ein Risiko einzugehen.

Ich habe in den letzten Monaten nie aufgehört, an dich zu denken. Und es gibt immer noch sehr viele Dinge, die ich gerne mit dir machen würde. Viel mehr Dinge, als nur die, die auf der Liste stehen. Ich vermisse dich.

Ich weiß nicht, ob du mittlerweile selbst darauf gekommen bist, aber ich denke es ist meine Pflicht dich ausdrücklich darauf hinzuweisen und dich damit auch vor mir vorzuwarnen. Vielleicht hilft es dir auch, den Zustand deiner Mutter besser zu verstehen. Ich glaub nämlich, mein Problem ähnelt sehr ihrem.

Ich kann die Gefühle von anderen wahrnehmen wie meine Eigenen. Manchmal ertrage ich die Last davon nicht und nachdem ich deine Mutter kennengelernt habe, die sich deshalb selbst verloren hat, habe ich meine Hoffnung verloren. Es ist sehr gefährlich, seine Hoffnung zu verlieren, Jannis, weil man sich dann nicht mehr wehrt und aufhört zu kämpfen. Die Folge davon war, dass ich in meinen Wahrnehmungen ertrunken bin, dass ich meine Konturen verloren habe. Ich hoffe, du kannst irgendwie aus meinen Worten schlau werden. Es fällt mir sehr schwer zu beschreiben, was passiert ist. Ich fühle mich immer noch wund und zerbrochen, aber es wird besser.

Falls du deine Meinung mir bezüglich geändert hast, nachdem du das nun von mir gehört hast, bist du frei den Kontakt wieder abzubrechen. Nur bitte lass mich zumindest in irgendeiner Form kurz wissen, wie es dir und Nora geht.

Den Namen Emmeline ertrage ich nicht mehr.

Ich las bewusst nicht nach, was ich geschrieben hatte, da mich sonst der Mut verlassen würde und versiegelte den Brief hastig. Dann versuchte ich zu schlafen.

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