Kapitel 87: Jannis

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Maddy lächelte mir aufmunternd zu und ich bemühte mich, ihr Lächeln zu erwidern, aber es fiel mir schwer. Nach dem kläglich gescheiterten Versuch in der Stadt hatte es einiges an Überredungskunst gebraucht, um mich dazu zu bringen, wieder an einen öffentlichen Platz zu gehen, aber es war ihr gelungen. Wir waren mit dem Auto gefahren. Das heißt, Max war gefahren, während Maddys Beitrag zu der Unternehmung das Aussuchen eines Parks war. Meine Mutter hatte uns ein Picknick vorbereitet und Joey, dessen Verhalten mir gegenüber sich grundlegend geändert hatte, hatte sich uns angeschlossen. So war es dazu gekommen, dass ich nun mitten im Park saß und vor Aufregung keinen Bissen runter bekam. Die anderen gaben vor, von meinem merkwürdigen Verhalten nichts mitzubekommen und unterhielten sich lebhaft. Ich denke, sie versuchten die Stimmung aufzulockern und mich abzulenken. Max warf sich eine Nuss in die Luft und versuchte sie mit seinem Mund aufzufangen. Er war sehr geschickt in diesem Kunststück, was aber auch kaum verwunderlich war, da er viel Zeit darauf verwendet hatte, diese Kunst zu perfektionieren.

Als ich ihn so sah, tauchte ein inneres Bild von Jannis vor meinen Augen auf, wie ich versucht hatte, ihm eine Traube in den Mund zu werfen. Er war in diesem Moment so glücklich, so ausgelassen gewesen. Damals waren wir bei seinen Großeltern zu Besuch gewesen. Die Erinnerung schien mir nun unwirklich und fern und doch tat mir der Gedanke an ihn unheimlich weh. Ich sprang abrupt auf und lief ein paar Schritte weg. Ich vermisste Jannis. Ich vermisste ihn so sehr, dass es manchmal fast unerträglich schmerzte. Ohne eine weitere Erklärung entfernte ich mich von den anderen und setzte mich auf eine Parkbank.

Werde ich ihn je wieder sehen?, flüsterte ich leise und der Gedanke machte mein Herz ganz schwer. Ich versuchte, den Klos herunterzuschlucken, aber es gelang mir nicht. Es ist okay. Also ließ ich für einen Moment die Tränen zu. Dann atmete ich tief durch, sammelte mich und ging zurück zu den anderen, die mich besorgt musterten. Etwas an meiner Mine hielt sie jedoch davon ab, nachzufragen.

„Wir haben dir ein paar Schokofrüchte gerettet", teilte mir Maddy mit und warf einen strafenden Blick auf meinen Bruder, der nur frech grinsend die Achseln zuckte. Ich tat so als würde ich mich darüber freuen, dabei hatte ich gerade garkein Appetit auf irgendwas. Ich vermisste die Gespräche, die ich mit Jannis geführt hatte. Die Vertrautheit, die ich empfunden hatte, wenn wir uns nah waren.

Die Zeit im Park verlief letztlich wider Erwarten sehr gut und nach einer Weile gelang es mir sogar, mich etwas zu entspannen. In einem Moment, wo die anderen uns nicht hörten, wandte Maddy sich mit gedämpfter Stimme an mich. „Jannis fragt mich die ganze Zeit nach dir. Ich habe ihm erzählt, dass du langsam wieder auf dem Weg der Besserung bist. Er hat fast komplett aufgehört zu reden seit du weg bist."

Vor ein paar Monaten hätte ich Maddy gebeten, nicht weiter über ihn zu sprechen, aber das brachte ich jetzt nicht mehr über mich. Im Gegenteil, ich wollte nicht, dass die aufhörte über ihn zu reden, auch wenn mein Herz sich gerade anfühlte wie im freien Fall.

„Wie geht es ihm? Hat er das Abi geschafft?"

„Ja sehr gut sogar. Chris hat erzählt, dass er sehr hart arbeitet um für seine Schwester und sich zu sorgen. Er hat fast nichts anderes gemacht als für die Schule zu lernen und nebenher zu jobben. Ich glaub, bei ihm zu Hause läuft irgendwas schief."

Bei ihren Worten tauchte unmittelbar die Erinnerung an Jannis auf, wie er in meinen Nacken geweint und von seinem Vater erzählt hatte. Als meine Gedanken weiter zu seiner Mutter wanderten, begann ich zu zittern.

„Ehrlich gesagt geht es ihm aber garnicht gut", sagte sie leise. „Er hat dich wirklich sehr gerne."

Ich versuchte, normal zu atmen. Maddy musterte mich besorgt. „Möchtest du mehr von ihm hören oder ist dir das zu viel?"

Ich schüttelte den Kopf. „Was weißt du noch?"

„Er hat mir etwas gegeben, was ich dir geben soll, sobald ich denke, dass du es haben willst."

Mein Blick reichte wohl als Antwort. Was sie schließlich aus der Tasche beförderte, war doch tatsächlich ein Brief. Ich konnte nichts dagegen tun, dass mir die Tränen in die Augen traten, als ich seine Handschrift auf dem Kuvert sah. Er hatte sich doch damals so vehement dagegen geweigert, Briefe zu schreiben.

„Alles in Ordnung?", fragte Joanne besorgt.

Einerseits konnte ich den Brief nicht vor ihren Augen lesen, andererseits hielt ich es keine Sekunde länger aus, nicht zu wissen, was er mir geschrieben hatte. Fast ein Jahr lang hatte ich gar nichts mehr von ihm gehört und nun hielt ich plötzlich einen Brief von ihm in der Hand. „K.kann ich den Autoschlüssel haben?", stotterte ich.

Max sah sehr alarmiert aus, als er mir zögernd den Schlüssel reichte.

„Ich stell nichts Blödes an, ich muss nur kurz allein sein. Ich fahr auch nirgends hin oder so."

Das schien ihn zu überzeugen. „Schreib uns, wenn du uns brauchst", sagte er eindringlich. Ich nickte und stand auf meinen wackligen Beinen auf. Ich rannte fast zum Auto und schloss mich schließlich darin ein. Meine Hände zitterten unkontrolliert und ich gab es auf, etwas gegen die Tränen zu tun, die mir über das Gesicht liefen, als ich hastig den Brief öffnete.

Emmeline

Du hast keine Ahnung, wie oft ich diesen Brief neu angefangen habe. Meine Lösung ist jetzt, einfach nicht nochmal nachzulesen, was ich genau geschrieben habe, sonst wird dieser Brief dich niemals erreichen. Also hier ist er. Du hast es geschafft, dass ich dir tatsächlich einen Brief schreibe, so wie es auf deiner Liste stand. Ich weiß nicht, ob es überhaupt noch Dinge gibt, die du mit mir machen willst, ob du überhaupt noch etwas mit mir zu tun haben willst. Ich kann nicht schlafen deswegen. Es tut mir leid was passiert ist. Du hast keine Ahnung wie sehr. Mir tut nicht leid, wie nah wir uns gekommen sind. Falls dieser Brief enttäuschend für dich ist, tut mir das auch leid. Ich hab dir ja von Anfang an gesagt, dass ich nicht gut mit Worten bin. Du weckst in mir den Wunsch, dass es nicht so wäre. Ich wünschte ich könnte mit Worten irgendwie ausdrücken

Ich dachte, dir geht es besser ohne mich. An meinen Gefühlen für dich hat sich garnichts geändert. Auch nicht nach der langen Zeit, in denen wir uns nicht mehr gesehen haben. Ich hoffe du denkst nicht, dass ich mich nicht mehr bei dir gemeldet habe, weil ich es so wollte. Ich war sehr oft kurz davor, aber dann habe ich mich daran erinnert, wie du damals weggerannt bist und ich hatte gehofft, dass es einfach von selbst aufhört, wenn ich dich nicht mehr sehe. Aber das hat es nicht. Falls das bei dir anders ist und du nichts mehr von mir wissen willst, brauchst du einfach nicht zu antworten und du wirst nie wieder was von mir hören. Falls doch...kannst du Maddy vielleicht eine Antwort geben. Dir steht die Wahl völlig frei.

In jedem Fall will ich, dass du weißt, dass ich dich niemals vergessen werde und dass ich mir ziemlich sicher bin, dass ich niemals mehr so ein Mädchen finden werde wie dich.

Jannis


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