Kapitel 47: kompetente Beratung, Thermoskanne und Salzstangen

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Das Klingeln der letzten Stunde vor den letzten Sommerferien meines Lebens war wie eine Erlösung. Trotzdem ließ ich mir Zeit, als ich meine Materialien in meine Tasche packte, während der Kurs wie ein wütender Mob das Zimmer verließ. Ich hatte keine Lust, mich in den erbarmungslosen Strom zu werfen und ließ mir daher so lang Zeit, bis sich der Gang gefahrlos betreten ließ.

„Tommy!", rief ich, ohne nachzudenken beim Anblick von meinem widerwilligen Freund. Als er sich zu mir umdrehte, machte er gleichzeitig den Blick frei zu Jona und ein paar anderen Kumpels. Ich bemühte mich, mein Lächeln nicht abschwächen zu lassen, um keine unangenehme Atmosphäre entstehen zu lassen und ging auf die Gruppe zu, obwohl sich alles in mir dagegen sträubte. „Hallo ihr", sagte ich etwas unsicher, als ich bei ihnen war. Phaedra, eine dunkle Schönheit aus der Gruppe, die mir stets mit einem gewissen Maß an Misstrauen entgegengekommen war, lächelte mich zurückhaltend an. „Hey, Em", sagte sie und rettete mich damit davor, peinlich ignoriert zu werden, da selbst Tommy mich lediglich mit einem Kopfnicken bedachte. Nach all den Wochen in ihrem Freundeskreis, hatte ich immer noch Mühe, Phaedra's Gefühle nachzuempfinden. Aus Respekt vor ihrer Privatsphäre ließ ich es ganz bleiben.

„Euch allen schöne Ferien!", sagte ich und winkte unsicher in die Runde, bevor ich mich schnell wieder davon machen wollte. Tommy hielt mich jedoch auf. „Hey warte, ich bräuchte mal deinen Rat." Er ging mit mir ein paar Schritte von der Gruppe weg und ich folgte ihm überrascht. Er wippte unruhig auf seinen Ballen. Als ich spürte, dass seine Stimmung kippte und er kurz davor war, es doch sein zu lassen, was immer er auch vor hatte, beschloss ich, aktiv zu werden. „Tommy, du weißt, dass ich dich niemals auslachen würde? Und dass du mir vertrauen kannst?", sagte ich behutsam. Endlich sah er mich an, immernoch zögernd. „Ich weiß." Diese Worte waren wie Balsam, weil ich spürte, dass er sie so meinte und er damit Kontra zu all den anderen Stimmen gab, die mich in den letzten Wochen verletzt hatten. Ich lächelte und ließ ihm Zeit. „Das Mädchen von der Stufe unter uns...", hob er endlich an, ohne mich anzusehen. Mein Lächeln wurde zu einem Grinsen: „Was ist mit ihr?" „Sie heißt Matthea, ich hab sie angesprochen und ich dachte, du als Mädchen..."

Ich war kurz davor rumzuspringen, so aufgeregt war ich für ihn „Was hast du gesagt? Erzähl!"

Ich hatte kaum noch Geduld, ihm beim Herumdrucksen zu beobachten, aber ich wusste, dass ich ihn vergraulen würde, wenn ich ihn weiter drängen würde, deshalb riss ich mich zusammen.

„Ich hab ihr nen Drink spendiert auf einer Party, bei der ich sie zufällig getroffen habe", ich bedeutete ihm, weiterzureden. Man musste ihm wirklich alles aus der Nase kitzeln. „Wir sind zusammen raus gegangen und haben über irgendwas geredet. Weiß auch nicht mehr. Hab jetzt jedenfalls ihre Nummer." Er versuchte, seinen gewohnt gelangweilten Ton beizubehalten, aber selbst ihm gelang das kaum mehr. Mein Grinsen wurde noch breiter. „Hör auf, so gruselig zu gucken", brummte er und runzelte die Stirn. „Okay, und was hast du jetzt vor?", ich ignorierte gekonnt, was er gerade zu mir gesagt hatte. „Weiß nicht. Was denkst du, warum ich dir das alles überhaupt erzähle?"

„Keine Ahnung? Vielleicht, weil du mich an den Dingen in deinem Leben teilhaben lassen willst?", fragte ich sarkastisch. „Also gut. Sie hat dir ja ihre Nummer gegeben, also so abgeneigt scheint sie garnicht zu sein. Schreib sie halt einfach mal an."

Er verzog sein Gesicht, als ob er in etwas Saures gebissen hätte: „Was soll ich denn schreiben?"

„Wie's ihr geht, was sie so macht... verwickel sie in ein Gespräch", riet ich. Genau, weil du ja so gut darin bist. Tommy sah mich ungläubig an. „Ist das dein Ernst? Ich?"

„Du hast gesagt, ihr habt euch schon unterhalten, also so schwer kann's doch nicht sein", verteidigte ich meinen Vorschlag. „Wenn du willst, kann ich dir helfen."

„Ne krieg ich schon hin", brummelte er. „Ich bring dich übrigens um, wenn du jemandem von diesem Gespräch erzählst." Ich lachte nur „Ich mag dich auch Tommy, du schaffst das schon."

Er brummelte irgendwas Unverständliches und ging dann zurück zu seinen Leuten. Ich sah ihm grinsend hinterher und ging dann beschwingt aus dem Flur.

Ich winkte gerade Larissa, meiner Nachhilfeschülerin zu und wünschte ihr schöne Sommerferien, als ich von meinen Freunden überfallen wurde.

„Em, es ist nicht so schlimm zu duschen, wirklich nicht", sagte Simon zur Begrüßung in einer Stimme, die alte Leute für kleine Kinder benutzten. Er tauchte plötzlich mit den anderen auf und schlang den Arm um meine Schulter. Ich verdrehte gespielt genervt die Augen und schlug ihm gegen den Arm. „Au, Scheiße Mann, ich glaub mein Arm ist gebrochen", er krümmte sich höchst dramatisch und hielt sich dabei besagten Arm. Alle lachten. Maddy hakte sich bei mir unter und auch Chris war blendend gelaunt und dafür, dass wir uns im Schulgebäude befanden, untypisch wach. „Was haltet ihr davon, unsere neue Freiheit im Freibad zu feiern?", schlug er vor. Alle waren sofort begeistert.

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Als ich Nachhause kam, war mir wieder sofort übel. Ich bemerkte den Zettel auf dem Tisch daher auch erst spät:

Hallo Em, mein Schatz, kannst du bitte nach Joanne gucken, solange ich weg bin? Sie ist krank und braucht viel Flüssigkeit und am besten auch was zum Essen

Vielen Dank, hab dich lieb

Mama

Mit dem Zettel in der Hand lief ich die Treppe hoch zum Zimmer meiner Schwester. Mit jeder Stufe wurde die Bewegung anstrengender. Als ich Joanne's Zimmertür öffnete, war mein Kreislauf gefühlt im Keller und ich fühlte mich selbst, als ob man sich um mich kümmern sollte. Das sind nicht deine Empfindungen, Em, vergiss das nicht! Das war leichter gedacht, als getan. Die Ursache meiner Übelkeit lag teilweise eingekeilt in ihrer Bettdecke. Ihre Haare waren in einen strähnigen Zopf gebunden, ein Eimer stand neben ihrem Bett, außerdem Thermoskanne, Salzstangen und ein angebissenes, offenbar verschmähtes Butterbrot. Die Jalousien waren teilweise heruntergelassen, um den Raum kühl zu halten. Ich kniete mich neben das Bett, vorsichtig, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als sie mich hörte, öffnete Joanne die Augen.

„Hey", sagte ich sanft „brauchst du irgendwas?"

Meine kleine Schwester schüttelte vorsichtig den Kopf, was ich nachvollziehen konnte, so zugedröhnt, wie ich mich gerade fühlte. Ich war ungefähr am ungeeignetsten für den Job als Krankenschwester. Ich spürte, wie es ihr hoch kam und hielt ihr rechtzeitig den Eimer hin. Als Joanne sich im nächsten Moment übergab, musste ich meine ganze Willenskraft aufbringen, um es ihr nicht gleich zu tun.

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