Kapitel 1

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Gleich geschah es wieder.

Ein Kribbeln unter meiner Haut, auf meiner rechten Hand. Dieses Gefühl weckte mich heute Morgen und begleitete mich bereits den ganzen Weg hier her. Was gleich  geschehen würde, war mir bewusst, denn das war schon vorher passiert. Ich stand unmittelbar vor dem Schuleingang, als ich das Gefühl nicht mehr unterdrücken konnte. Schnell lief ich hinter eine Mauer, lehnte mich an sie und kniff die Augen zu. Zuerst läuft es mir eiskalt den Rücken runter, dann sträuben sich mir die Nackenhaare und Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn. Ich atmete schnell und unkontrolliert als die ersten Bilder vor meinen Augen erschienen. Sie waren dunkel und verzerrt, wechselten schnell und liefen ineinander über. Alles was ich darauf erkannte, konnte ich nicht zuordnen. Es war etwas Unnatürliches, etwas, dass meinen Körper jedes Mal zittern ließ.

Bevor ich meine Augen öffnete, versuchte ich alle meine Sinne beisammen zu nehmen. Eins, zwei, drei... Ich atmete tief aus und öffnete meine Augen. Ich merkte nicht, dass ich an der Wand runter gerutscht war, dafür allerdings alle anderen. Ich konnte jeden einzelnen Schritt hören. Ich hörte sie lachen, reden, atmen und ich hörte die Schläge ihrer Herzen. In meinem Kopf war es wie in einer Vakuumblase. Jedenfalls für ein paar Sekunden. Gleich würde es wieder nachlassen, gleich werde ich wieder normal sein.  

Die Blase platzte und es hörte sich alles wieder normal an. Es ist, als würde die Welt sich für einen kurzen Moment langsamer drehen. Ein kurzes zischen durchdrang mein Ohr und ich strich mir die Haare aus dem Gesicht, ich trocknete die Schweißperlen von meiner Stirn und griff nach der Tasche, die neben mir auf dem gepflasterten Boden lag. Ich stellte mich einfach dazu und lief mit dem Strom mit. Mit meiner Hand, fuhr ich mir einige Male über den Rock und glättete die Falten. Das gab mir das Gefühl, mein Leben unter Kontrolle zu haben. Als ich den ersten Schritt durch das Tor ging, änderte sich meine Körperhaltung schlagartig. Mein Blick ist gesenkt und meine Schultern hängen runter. Ich hielt mich an meinem Arm fest und versuchte schnell vorwärts zu kommen. Sie hielten mich hier alle für verrückt, zu Recht. Das bin ich, verrückt, nicht normal, anders.

Ich spürte ihre Blicke auf meiner Haut. Sie glitten an mir rauf und runter. Manchmal hörte ich ein lachen, auch wenn ich nicht hin horchte. Ich war dermaßen in meinen Gedanken vertieft, nicht aufzufallen, dass ich  nicht bemerkt hatte, wie ich in eine Gruppe von Jungs lief.

„Hey pass doch, oh. Hay na du? Hab dich hier noch nie gesehen, bist du neu hier Süße?" Die Tatsache nicht neu zu sein beunruhigte mich. Bin ich vielleicht mittlerweile endlich Unsichtbar? Und wieso nannte er mich Süße?

„Nein ich bin dir wahrscheinlich nur nicht aufgefallen". Ich griff nach meiner Tasche, die mir herunter gefallen war und wollte schnell das Weite suchen, aber er bückte sich ebenfalls und kam mir zuvor.

„Mir entgeht kein hübsches Gesicht..."

Mir wurde flau im Magen und das Blut schoss mir ins Gesicht. Wollte er mich verarschen, oder wusste er wirklich nicht, wer ich war? Komplett mit der Situation überfordert, riss ich meine Tasche an mich, schluckte und setzte mich schleunigst in Bewegung. Das mich dabei alle verwirrt anstarrten entging mir nicht.

„Ruf mich an Unbekannte!"

Das waren die letzten Worte die mich erreichten, bevor mein Fluchtinstinkt einsetzte. Und ich fragte mich, wie ich ihn anrufen sollte, würde ich das in Betracht ziehen, wenn ich weder wusste wie er hieß, noch seine Nummer hatte.

Ich kam im Flur des Schulgebäudes zum Stehen, als ich mich wieder beruhigt hatte. Meine Hand strich über den roten Stoff meines Rocks und ich erlangte das Gefühl von Kontrolle wieder. Rot war auch für mich eine Farbe die auffiel, doch ich liebte sie. Ich verband mit ihr ein Gefühl, dass ich nicht beschreiben konnte. Als wäre ich, ich selbst in dieser Farbe. Kurz musste ich lächeln, doch schon dann drängelten sich die Leute an mir vorbei und zogen mich mit. Ich war wieder in der Realität und setzte mich in Bewegung. Als sich das Getümmel gelegt hatte, war ich gerade auf dem Weg zu meinem Schließfach. Der Geruch von Büchern und Tinte war mir so vertraut. Die Stimmen und Geräusche, die an den Wänden abprallten hatten etwas Heimisches. Auch wenn immer andere Leute auf den Fluren standen, veränderten sich die Klänge nicht. Ich sah nach vorne und ein mir unbekanntes Mädchen riss mich aus meinen Gedanken. Ich blieb abrupt stehen und sah sie an. Es fühlte sich falsch an sie zu sehen. Mein Kopf legte sich in den Nacken und ich spielte an meinen Fingern, während ich beobachtete, wie sie selbstverständlich ein Buch aus meinem Spinnt nahm.

„Du Schlampe!" hallte es an allen Wänden ab. Mich durchzog eine Gänsehaut und es wurde blitzartig still. Ich wandte mich von der Unbekannten ab und ließ meinen Blick über meine Schulter schweifen. Ich kannte diese Stimme besser als meine eigene und würde sie unter tausenden erkennen. Sie gehörte zu ihr, Clarissa Carter, die blonde Schönheit der Schule. Die Unangefochtene Anführerin der Cheerleader. Unantastbar und Dominant, eine Anführerin mit Stimme und einem Volk im Rücken. Eine Klischeehafte Rolle, die in jeder Schule vertreten wird. Und dann gibt es auch noch mich. Das Opfer ihrer Majestät.

Ich machte mich schon klein als sie an mir vorbei ging. Sie hat gemerkt, dass ich sie anstarrte, würdigte mir jedoch keinen Blick. Ich war verwirrt und sah ihr nach. Die Sportler die ihr aus jeder Ecke zuliefen, blinzelten mir zu und liefen auf das Mädchen zu. Stifte, Papiere und Trinkpäckchen flogen durch die Luft. Es dauerte nicht lange bis auch die unbeteiligten mitzogen. Ich erstarrte und sah zu, wie sie das Mädchen erniedrigten. Ich hätte an ihrer Stelle sein müssen. Diese Situation war mir vertraut. Als wüsste ich, was nun geschehen würde, blickte ich zurück zu dem Mädchen, dass noch immer an meinem Schließfach stand. Ich beobachtete von weitem, wie einer der Sportler einem Jungen den Kaffee aus der Hand nahm.

Das kann nicht sein.

Der Kaffee tropfte von ihrem T-Shirt und hinterließ einige Flecken, die ich auch nie wieder raus bekommen habe. Ihre nun auch nassen Schuhe setzten sich ruckartig in Bewegung. Mein Atem stockte. Ich sah in jedes einzelne, lachende Gesicht. Ohne auch nur darüber nachzudenken, lief ich ihr nach. Ich musste nicht raten, wo sie war, ich wusste es. Ich wusste wo ich hingerannt war.

Die Tür der Mädchentoilette stand noch einen Spalt weit offen, als ich sie betrat. Als ich die Brille am Waschbeckenrand bemerkte, wusste ich, dass ich richtig lag. Ein dumpfer Schlag ertönte und das Mädchen kam aus einer der Kabinen. Sie stellte sich ignorant neben mich und schien mich bewusst nicht anzusehen. Aber das war nicht schlimm, denn ich starrte sie an. Sie zog ihre Tasche zu sich um mir am Waschbecken Platz zu machen. Sie nahm ihre Brille, machte diese sauber und setzte sie wieder auf. „Ist alles in Ordnung?" Dumme Frage. „Es ist wie es aussieht! Tu nicht so und spar dir bitte deine Kommentare." Fauchte sie mich an. Verständlich. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich in dieser Situation verhalten sollte. Als ich an ihrer Stelle war, wollte ich im Erdboden versinken. Deswegen legte ich ihr meine Hand fürsorglich auf die Schulter. Sie schüttelte diese aber schleunigst von sich ab. Dumme Idee. „Nun lass mich doch einfach in Ruhe verdammt!" Schrie sie so laut, dass jede Zelle in meinem Körper vibrierte. Noch bevor ich mich wieder gefasst habe, knallte die Tür erneut. Ich richtete meinen Blick auf den Spiegel und sah mich selbstmittleidig an. Meine Lippen zuckten und ich strich mir eine braune Strähne hinters Ohr.Wenigstens war die Leere in meinen glasigen Augen noch die Selbe.

Ich nahm meine Tasche und verließ das Bad wieder. Als die Tür hinter mir zu fiel, erschreckte ich mich erneut. Ich machte mich auf ein gewohntes Szenario gefasst, doch dies traf zu meiner Verwunderung nicht ein. Die blonde Schönheit stellte sich dominant vor mich hin und streckte mir ihre Hand entgegen.

„Du bist Neu, deswegen will ich mal nicht so sein. Ich heiße Clarissa Carter und kurz gesagt, das ist meine Schule. Und dieses nun nach Kaffee muffende Luder, brauchst du nicht zu beachten. Du wirst das alles wohl nicht verstehen und es mag dir vielleicht etwas grausam erscheinen, aber Ingrid ist eine Schlampe, durch und durch." Ich konnte ihren Worten kaum folgen, da ich zu beschäftigt damit war mich zu fragen, weshalb sie mich nicht anspuckte.

„Ich weiß sie ist wunderschön, aber du musst sie nicht anstarren." Meldete sich einer der Sportler zu Wort. Clarissa wickelte sich ihre Schlüsselbein lange Haare um den Finger „Hahaha Brain, mein Charmeur." Sprach sie etwas verlegen aus.

Ich beobachtete sie alle mit einem kritischen Auge. Doch ich stellte fest, dass ich mich nicht irrte. Ich kannte sie, ich kannte sie alle. Aber mich kannte keiner. Langsam weichte ich von meiner Theorie von Zufällen oder Provokationen meiner Mitschüler ab. Aber es konnte doch nicht sein, dass mich alle vergessen haben.  „Nun denn, du darfst mit uns abhängen." Clarissa's Worte waren wie drohende Peitschenhiebe, keine freundliche Einladung zu seinem gemeinsamen Sitzplatz in der Cafeteria. Doch ich konnte dem Gespräch ab spätestens diesem Zeitpunkt nicht mehr folgen. Ich ließ meinen Blick durch die Gänge gleiten und atmete tief ein und aus. Meine Handfläche begann wieder zu kribbeln und ich setzte meine Füße in Gang. „Danke Clarissa, ich muss jetzt aber erst in meine Klasse. Vielleicht wann anders."

Ich ließ Clarissa Carter einfach stehen. Ich wusste, dass sie mit diesem Ausgang nicht gerechnet hat und ich wusste, dass ich das irgendwann mal bereuen würde. Ihr Blick bohrte sich in meinen Rücken, selbst dann noch, als ich schon einige schnelle Schritte gelaufen war.

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