Teil 21 - Auf dem Pfad

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Eskel kauerte im hohen Gebüsch am Rande der Lichtung, durch das dichte Laubwerk verborgen vor aller Augen. Auch vor denen des jungen Greifen, der in einigen Metern Höhe kreiste und die Ziege anvisierte, die der Hexer als Köder in der Mitte der Lichtung angebunden hatte.

Nachdem er eine Woche unterwegs gewesen war, hatte er fast schon das Kestrelgebirge erreicht. Die Nächte waren nach wie vor frostig gewesen, aber das hatte er erwartet. Für gewöhnlich hätte er noch mindestens drei weitere Wochen in Kaer Morhen verbracht, bis der Winter dem Frühling endgültig gewichen wäre. In diesem Jahr zog es ihn allerdings weitaus früher auf den Pfad als gewöhnlich...

Eigentlich hatte Eskel vorgehabt, auf dem schnellsten Weg nach Oxenfurt zu reisen und unterwegs höchstens kleinere Aufträge anzunehmen, deren Erledigung nicht viel Zeit in Anspruch nähme.

Doch als er vor sechs Tagen in das Dorf Dagren geritten war, war er von den Bewohnern unerwartet freundlich willkommen geheißen worden. Zwar wurde Eskel auch hier kritisch beäugt und Kinder wurden eilig von ihren Müttern in die Häuser und Hütten geschickt - jedoch unterließen die Dörfler es, ihm unflätige Beleidigungen entgegenzuschleudern oder auszuspucken, wenn er an ihnen vorbei ritt. Der Dorfvorsteher persönlich war zu ihm gekommen, als er sich in der örtlichen Schenke niedergelassen hatte. Der Mann war trotz seines fortgeschrittenen Alters noch eine stattliche Erscheinung. Er setzte sich Eskel gegenüber an den Tisch, an dem dieser gerade eine Mahlzeit zu sich nahm. Offenbar hatte der Vorsteher keine Zeit verlieren wollen und kam sofort zum Grund seines Erscheinens in der Taverne.

Die Umgebung des Dorfes wurde seit einiger Zeit von einem Greifen terrorisiert. Zuerst hatte das Tier sich darauf beschränkt, Schafe von den Weiden zu stehlen. Vor vier Wochen jedoch war ein Mensch der geflügelten Bestie zum Opfer gefallen - der Schäfer, der leichtsinnigerweise versucht hatte, den Greifen von seiner Herde zu vertreiben, als dieser wieder auf Jagd war. Anscheinend hatte der Mann vorzüglich geschmeckt, denn seitdem hatte der Greif neben den üblichen Schafen immer wieder Menschen attackiert. Den meisten war die Flucht in ein nahes Gebäude oder in den Schutz des Waldes gelungen - dem noch halbwüchsigen Sohn des Müllers allerdings nicht. Seine abgenagten Gebeine waren Tage später am Ufer eines Baches gefunden worden, an dem der Greif offenbar sein Mahl verzehrt hatte.

Deshalb begrüßten die Dorfbewohner verständlicherweise das Erscheinen eines Hexers in ihrer Siedlung. Eskel war sich bewusst, dass die Jagd auf einen Greifen oftmals mehrere Tagen in Anspruch nahm - im schlimmsten Fall sogar Wochen. Aber würde er den Auftrag ablehnen, dann war die Wahrscheinlichkeit groß, dass es noch weitere Opfer in dem Dorf zu beklagen geben würde. Ob und wann ein anderer Hexer das Dorf besuchen würde, stand in den Sternen. Außerdem hatte Eskel nicht vor, seinem Ruf als zuverlässigem Vertreter seiner Zunft zu schaden, indem er die Dorfbewohner in ihrer Not im Stich ließe. Und die angebotenen 200 Dukaten waren auch nicht zu verachten.

Also hatte Eskel die letzten Tage damit verbracht, der Fährte des Greifen zu folgen. Als er auf Knochen stieß, die verstreut am Fuß eines Berges lagen, wusste er, wo er das Nest finden würde. Die Suche hatte eine kurze Kletterpartie erfordert, da der Horst sich auf einem Felsvorsprung befand, der vom Bergpfad aus nicht zu erreichen war. Es lagen keine Eier im Nest - somit sollte die Bedrohung für die Dorfbewohner ausgeräumt sein, sobald die Bestie erlegt wäre.

Eskel hatte eine Lichtung unweit des Horsts als günstigen Platz für einen Hinterhalt ausgemacht, eine Ziege mit einem Pflock im Boden auf der Grasfläche angeleint und sich in das Gebüsch zurückgezogen. Die Armbrust lag auf seinem Unterarm, ein Bolzen eingelegt und die Sehne gespannt. Mehrere Stunden hatte er nun schon regungslos in seinem Versteck verharrt. Vor ein paar Minuten endlich war der geflügelte Hybrid aufgetaucht.

Der Greif setzte zum Sturzflug auf die meckernde Ziege an, die dem herannahenden Tod nicht entfliehen konnte. Er riß die Flügel hoch und stieß mit den Beinen voran auf sein Opfer zu. Bevor die Bestie jedoch ihre Klauen in das verängstigte Tier schlagen konnte, traf sie der Armbrustbolzen seitlich in die Brust und drang tief in den Körper unterhalb des rechten Flügels ein. Der Greif schrie markerschütternd und schlug hart auf dem Boden auf. Die Schreie der Ziege gingen im Kreischen der Bestie unter.

Das Herz der Alchemie (The Witcher FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt