Teil 9 - Gegen die Zeit

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Als Thalia am nächsten Morgen erwachte, schlief Eskel noch. Wie von ihm vorhergesagt, war die Nacht unruhig gewesen. Thalia war durch seine Bewegungen immer wieder aufgewacht. Mehrere Male hatte sie sich über ihn gebeugt, um sich zu vergewissern, dass er keine Anzeichen einer Vergiftung zeigte. Auch, wenn er ihr versichert hatte, dass alles in Ordnung sei, war er mit Sicherheit zumindest in geringen Mengen dem Gift der Krabbspinnen ausgesetzt gewesen. Einen normalen Menschen konnten bereits wenige Tropfen des Toxins in kurzer Zeit töten. Der Hexer war natürlich wesentlich widerstandsfähiger und hatte zusätzlich seine Tränke eingenommen. Aber waren Hexer tatsächlich immun gegen Gifte oder lag ihre Toleranzschwelle nur höher?
Da auch die Tränke Nebenwirkungen zeigten, war es Thalia nicht möglich, diese von einer möglichen Vergiftung zu unterscheiden.
Nun, im Licht der Sonnenstrahlen, die in die Scheune fielen, konnte sie erkennen, dass Eskels Haut deutlich blasser war als gestern noch. Besorgt berührte sie seine Stirn. Fieber schien er nicht zu haben, die Wunde schien also soweit sie dies ohne Untersuchung feststellen konnte, nicht infiziert zu sein. Da sie Eskel nicht wecken wollte, konnte sie den Verband nicht abnehmen, um nachzusehen.
Als sie das Scheunentor öffnete, schlug ihr die kühle Morgenluft entgegen. Eine Ziege fraß an einem Grasbüschel und schaute kurz auf, als Thalia an ihr vorbei ging. Am Brunnen füllte sie ihre und Eskels Feldflaschen auf.
Natürlich beruhte ihre Sorge und ihr Interesse an Eskels Giftresistenz auf beruflicher Neugier - zumindest gelang es ihr beinahe, sich das einzureden. Alles andere wäre vollkommen irrational und unangebracht. Von allen Männern, die ihr seit Gregors Tod begegnet waren, war der Hexer wohl mit Abstand der am wenigsten geeignete für eine romantische Beziehung. Nicht, dass sie davon ausging, dass er daran interessiert sei...
Er war bestimmt einfach nur freundlich zu ihr, so wie er es jeder Person gegenüber sein würde, die mit ihm auf Reisen war. Sie hütete sich davor, zu viel in einen Blick oder eine Geste hineinzuinterpretieren. Und doch beschleunigte sich jedes Mal ihr Herzschlag, wenn er sie anlächelte oder etwas Nettes zu ihr sagte.
Er war so vollkommen anders als alle Männer, die sie bisher gekannt hatte...
Seine ruhige Art, sein scharfer Verstand und sein freundliches Wesen standen in starkem Gegensatz zu seinem äußeren Erscheinungsbild und seinem Beruf. Es machte sie unendlich wütend, wie schlecht er von den meisten Menschen behandelt wurde. Die, die ihm mit Abscheu und Hass begegneten, hatten nicht einmal halb soviel Mut und nicht einen Deut soviel Verstand wie er. Und doch riskierte er ständig sein Leben, um dieses Kroppzeug vor Bestien zu schützen.
Hoffentlich ging es ihm wirklich gut, so wie er gestern behauptet hatte...
Sie ging zurück zur Scheune. Eskel war inzwischen aufgewacht und saß auf einem Heuballen, den Kopf in die Hände gestützt. Als Thalia eintrat, schaute er auf und versuchte ein Lächeln zustande zu bringen.
"Guten Morgen. Wie geht es dir?" Thalia musterte ihn besorgt.
"Ich habe einen fürchterlichen Kater - noch eine Nebenwirkung der Tränke. Aber der vergeht in ein paar Stunden."
"Was macht deine Verletzung? Hat sie sich entzündet?"
"Nein, ich habe eben schon nachgesehen."
"Vom Gift hast du auch nichts abbekommen?"
"Ich sagte doch schon, dass wir Hexer auf Gift sehr viel schwächer reagieren als normale Menschen."
"In Ordnung. Also auf nach Aedd Gynvael?"
"Auf nach Aedd Gynvael."

Die Straße, die Ard Carraigh und Aedd Gynvael miteinander verband, war stark frequentiert. Die meisten Reisenden und Händler kamen ihnen entgegen, wollten von der kleinen Stadt im hohen Norden nach Ard Carraigh und von dort aus weiter gen Süden. Viele nutzten die letzten Wochen des Jahres, in denen die Pässe des Kestrel-Gebirges noch problemlos passierbar waren.
Am späten Nachmittag erreichten sie den Buina, den großen Strom, der in den Blauen Bergen entsprang und in Blaviken mündete. Auf der schmalen Brücke über den Fluss herrschte reger Betrieb. Sie mussten sich ihren Weg zwischen den Wagen, Reitern und Fußgängern, die ihnen entgegen kamen, suchen. Als sie das andere Ufer endlich erreicht hatten, dämmerte es bereits.
Sie lagerten am Wegesrand, unweit einer Gruppe von Händlern und Kaufleuten. Nachdem sie Skorpion und Arenaria versorgt hatten, entschuldigte sich Thalia, um sich in dem etwas abseits aus einer Felsspalte plätschernden Bach zu waschen.
Wie sehr freute sie sich auf ein richtiges Bad, anstelle dieser ständigen "Katzenwäschen". In Aedd Gynvael würde sie endlich wieder den Komfort der Zivilisation genießen können.
Sie löste ihren Zopf, wusch sich das Haar und kämmte danach sorgfältig die feuchten Strähnen aus. Damit sie besser trocknen konnten, ließ sie die Haare offen über ihre Schultern fallen. Sie überlegte kurz, ob sie sich dem Hexer so zeigen könne - immerhin trugen für gewöhnlich nur Dirnen und Zauberinnen das Haar offen. Aber da er ja häufiger mit Zauberinnen zu verkehren schien, würde er sich vermutlich nicht daran stören. Nicht, dass sie sich mit solch einer Frau würde messen können...
Sie richtete ihre Kleidung. Überraschenderweise zeigten die langen Stunden zu Pferd und der rationierte Proviant schon ihre Wirkung: Ihre Kleider saßen deutlich lockerer als noch bei ihrem Aufbruch. Zu Hause in Oxenfurt würde sie sich wohl neu einkleiden müssen oder ihre Garderobe enger nähen lassen...

Das Herz der Alchemie (The Witcher FF)Where stories live. Discover now