Teil 16 - Missverständnisse

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Das Kreischen der Harpyien wurde von den Felswänden zurückgeworfen. Die Gruppe hatte anfänglich aus vier Exemplaren bestanden, von denen Eskel bereits zwei mit der Armbrust erlegt hatte, nachdem diese sich aus der Luft auf ihn gestürzt hatten. Die restlichen zwei kreisten nun in sicherere Höhe über dem Hexer und schienen auf einen günstigen Moment für den Angriff zu warten.

Harpyien waren nicht intelligent genug, um wirklich kooperativ zu arbeiten - ansonsten wäre ein Kampf gegen eine größere Gruppe bedeutend schwieriger und riskanter gewesen. Anstelle den Feind gemeinsam von zwei Seiten aus anzugreifen, stürzte sich nun eine der beiden Harpyien allein auf Eskel, während die letzte in ihrer abwartenden Position verharrte. Als die Bestie nah genug war, schickte Eskel ihr einen gezielten Aard-Stoß entgegen, der sie aus ihrer Flugbahn warf und gegen eine Felswand prallen ließ. Sein Silberschwert bereitete der Harpyie ein schnelles Ende.

Anstelle aus dem Schicksal ihrer Gefährten zu lernen, schickte sich die verbliebene Hybride nun ebenfalls zum Sturzflug auf den Hexer an.

Als Eskel ihr den tödlichen Schlag versetzte, hallte ihr Schrei als Echo wider, zögerte den Moment des Todes akkustisch hinaus und verklang erst, als die Harpyie schon längst ihren letzten Atemzug ausgestoßen hatte.

Der Hexer inspizierte die Kadaver. Für die Entnahme der Spinalflüssigkeit würde Thalia Exemplare benötigen, deren Rückgrat unverletzt geblieben war. Die, die er mit Aard erfasst hatte, lag mit gebrochenem Genick am Fuß der Felswand. Unbrauchbar, zumindest für die Zwecke der Alchemistin.

Das gleiche traf auf eine der von Armbrustbolzen getroffenen Harpyien zu. Bei der anderen abgestürzten Bestie war das Rückgrat jedoch intakt geblieben. Ebenso bei der, die durch einen Schwertstich ins Herz gestorben war. Ausgezeichnet. Zwei Exemplare sollten wohl ausreichend für die Experimente sein.

Eskel verschnürte beide Kadaver und hob die Beute auf Skorpions Rücken - Harpyien verfügten zum Glück über einen sehr leichten Körperbau, sodass der Kaedweni keine Probleme hatte, die zusätzliche Last zu tragen.

Ein stechender Schmerz durchfuhr Eskels linke Schulter. Vorsichtig bewegte er den Arm im Gelenk und fluchte dann leise. Die Zerrung, die er sich offenbar gestern beim Training mit Geralt zugezogen hatte, machte sich wieder bemerkbar. Auch wenn er sich eigentlich schon wieder gut in Form fühlte, brauchten seine Muskeln anscheinend noch ein wenig mehr Zeit, um ihre alte Geschmeidigkeit wiederzuerlangen. Er würde in den nächsten Tagen darauf achten müssen, die Schulter nicht zu sehr zu belasten.

Eskel schwang sich in Skorpions Sattel. Da er bereits vor dem Dämmerung aufgebrochen war, würde er noch in den Morgenstunden nach Kaer Morhen zurückkehren. Aber bestimmt hatte Thalia im Labor schon alles für die Sektion der Harpyien vorbereitet, so enthusiastisch, wie sie gestern Abend gewesen war. Der Gedanke an die Alchemistin, die sich über seine schnelle Rückkehr freuen würde, ließ ihn die schmerzende Schulter schnell vergessen.

Als er in den Hof der Festung ritt, stieg Eskel ab und legte das Harpyienbündel auf das steinerne Pflaster. Dann erst führte er Skorpion zum Stall, in dem Arenaria neben Lamberts namenlosem Hengst stand. Die Stute hätte sich möglicherweise geängstigt, wenn sie die Kadaver gewittert hätte. Nachdem er sein Schlachtross versorgt hatte, ging Eskel zurück und schulterte seine Beute, um sie ins Labor zu bringen. Verdammt, seine Muskeln meldeten sich wieder schmerzhaft...

"Na, schon wieder verwundet worden? Wenn du nicht mal mehr mit Harpyien fertig wirst, ist Hexer vielleicht doch nicht der richtige Beruf für dich."

Lamberts schnarrende Stimme troff vor Spott. Natürlich war der jüngere Hexer gerade in dem Moment aufgetaucht, als Eskel schmerzhaft das Gesicht verzogen hatte. "Hast du nichts zu tun, Lambert? Wenn du dich langweilst: Das Dach des Nordturms wartet immer noch darauf, repariert zu werden."

Das Herz der Alchemie (The Witcher FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt