9 - Die Hoffnung des Drachen

3.7K 245 68
                                    


Gefährliche Freundschaft
——————
Kapitel 9

Vin wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch sie saß mittlerweile schon so lange auf dem Boden, dass es ungemütlich wurde. Schnell stand sie auf. Warum ließ sie sich eigentlich von einem Drachen derartig durcheinanderbringen? Diese ruppige Kreatur verdiente es doch nicht, dass man sich seinetwegen Gedanken und Sorgen machte! Wütend blickte sie gen Himmel, so, als würde der Drache dort oben sein. Es half ihr, ihre Wut zu mindern, wenn sie sich vorstellte, dass dort jemand wäre, an dem sie sie auslassen konnte.

Ein wenig bereute sie es schon, ihrem Temperament wieder die Überhand gelassen zu haben, doch sie hatte nicht wirklich eine Wahl gehabt, als Atlas sie bedroht hatte. Sie hatte sich bedrängt gefühlt, zu verraten, dass sie Schuld am Tod eines Freundes des grünen Drachens war. Und sie war noch nicht bereit, es dem Drachen zu sagen, denn wenn sie es ihm bald sagte, würde der Drache sie nur umso mehr hassen und wenn sie es ihm später sagte, falls die beiden sich vielleicht irgendwann mal besser verstanden, würde der Hass des Drachens wieder aufkeimen.

Die Nacht ging zuende und Vin beobachtete, wie der Himmel immer heller wurde und sich dann ein roter Feuerball über den Horizont schob. Dann kreischte es laut über ihr und als sie hinaufblickte, hatte sie es erst für eine Imagination gehalten. Der grüne Drache flog über ihr, zwar wacklig und nicht unbedingt geradeaus, aber er flog. Die großen, dunklen Schwingen schwangen auf und ab wie ein Fächer, doch Vin sah auch, dass es ihm große Anstrengung bereitete.

Wieso flog er jetzt hierher? Er wollte doch nach Westen! Und wieso zog er jetzt Kreise über ihr? Wollte er sie demütigen, indem er ihr zeigte, dass er fliegen konnte und sie nicht? Vin hatte das schon immer am meisten gehasst. Nicht, dass ihre Eltern von einem Drachen getötet wurden, sondern die Angeberei der Drachen, dass sie fliegen und frei sein konnten, erzürnten Vin nach wie vor. Atlas stieß herab und ehe Vin sich's versah, hatte der Drache bereis eine Klaue um sie gelegt und flog nun mit ihr wieder nach oben an den Morgenhimmel. Erschrocken schrie sie auf.

»Bist du des Wahnsinns?«, fauchte sie, als der Drache Westen anpeilte. Woher nahm er die Dreistigkeit, sie mir nichts, dir nichts zu verschleppen? Der Wind zog an ihren Haaren und ließ ihre Wangen vor Kälte erröten.

Vin war froh, dass sie schwindelfrei war, denn sie war sich sicher, dass wenn sie es nicht gewesen wäre, sie sich bei den schwankenden Manövern des Drachen hätte übergeben müssen. »Was machst du?«, brüllte sie gegen den Wind und schlug wie wild gegen die Klaue, die sie so eisern festhielt.

Plötzlich war der Druck verschwunden und im nächsten Moment spürte Vin, wie sie fiel. Doch nur wenige Sekunden, dann packte der Drache sie wieder und ächzend ob der Wucht landete sie wieder in der großen Klaue des Drachens, die wie eine Trage ausgerichtet war. Vin war nun nach unten gerichtet und konnte die Felder unter sich sehen ... und als sie den Blick hob, erkannte sie in der Ferne wegen der Sonne glänzendes Wasser. Vin vergaß, was sie dem Drachen an den Kopf hatte werfen wollen, was ihm denn einfiel, sie einfach fallen zu lassen. Sie wollte etwas anderes sagen, um diesen wunderschönen Moment, in dem sie zum ersten Mal das Meer sah, nicht unkommentiert zu lassen, doch wie so oft war es besser, einfach nichts zu sagen und es auf sich wirken zu lassen.

Vin getraute sich sogar, die Arme auszubreiten und innerlich zu jauchzen. Laut ihre Begeisterung auszudrücken, wollte sie dem Drachen nicht gönnen. Sie flog! Sie flog tatsächlich und es war wundervoll. All die Jahre hatte sie dieses Eine können wollen und selbst jetzt wurde dieses Erlebnis geschmälert davon, dass Atlas flog und nicht sie selbst, sie also auf den Drache angewiesen war. Mittlerweile waren sie über dem Meer. Wie flüssiges Gold schwamm es unter ihnen und Vin verspürte den Wunsch, hineinzutauchen und sich durch das sonnenbeschienene Nass gleiten zu lassen. Als der Drache jedoch tiefer flog, streckte sie eine Hand nach unten aus und pflügte mit dieser durch die sanften Wellen. Von ihr aus könnten sie noch stundenlang weiterfliegen. Der Drache hingegen hatte andere Pläne und er landete am Ufer.

Der Fall des Drachen [1] - Gefährliche FreundschaftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt