Kunterdunkelgrau

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Stumm hatte er sich an die Reling gestellt, die grauen Augen starr auf das endlose Meer gerichtet. Das Firmament schmückte sich in pastellfarbenen Blautönen und samtweichen Schäfchenwolken, indes der Wind mit seinem schwarzen Haar spielte und neckend an der weißen Mütze zog, die seinen Kopf zierte.
Kaum merklich schürzte er die schmalen Lippen, führte die Spitzen seiner Finger an sein Haupt und vergrub sie in dem weichen Stoff seiner Kopfbedeckung. Seine Augen aber blieben auf das Farbenspiel, die lautleise, melodische Sinfonie der Natur vor ihm gerichtet, der Ausdruck in seinen Iriden glasig und leer.
Als eine seichte Welle heranrollte und sich vor der noch immer namenlosen Nussschale verneigte, die er seit wenigen Tagen sein Eigen nannte, vereinigten sich hauchfeine Salzwasserperlen und brillierend glitzernde Sonnenstrahlen zu goldenen, lichtgesäumten Sprenkeln, einer erhabenen Komposition aus Meereswasser und Sonnenlicht. Es sollte sich anfühlen wie herabrieselnder, warmer Sommerregen auf seiner gebräunten Haut, erfrischend und willkommen. Wie endlose Freiheit, lebendig und federleicht. Wie vollkommenes, makelloses Glück, ein sanftmütiges Kitzeln in der Tiefe seiner Seele, eine Einladung zum Aufatmen.


Doch das tat es nicht.


Er hatte das Gefühl, ein Leben zu leben, das nicht sein eigenes war, in einem Körper gleich einer seelenlosen, leeren Hülle zu stecken, ihm fremd und zuwider. Sein Dasein schien ihm durch die Finger zu gleiten, entwand sich seiner Kontrolle, während alles um ihn herum in der Blüte des Lebens stand, farbenfroh, ja gar aufdringlich bunt, verspielt und quicklebendig.
Und er?
Atmete, beobachtete.


Wartete.


– Warten worauf?


Seine Augen verengten sich, die Stirn verärgert in Falten gelegt. Ja war es denn nicht absurd, dass er sich einen Arzt, ja sogar einen Anführer schimpfte, ein Mensch, der taktisch dachte, weit vorausplante, durch und durch rational, der das Hakuen-Syndrom, die unheilbare Bleiweiß-Krankheit, zu besiegen gewusst hatte und der es doch nicht einmal für den Hauch einer Sekunde vermochte, einen Zustand des Seelenfriedens, errichtet aus Wurzeln der Zufriedenheit, Geborgenheit und des Glücks, zu erreichen?
Mit einem Schnauben auf den Lippen riss er sich die Mütze vom Kopf, ehe seine zu Fäusten geballten Hände auf das kalte Metall der Reling aufschlugen, wobei sich eine hervorstehende Schraube in seine Haut grub. Der äußere Schmerz aber war ob seiner inneren Qualen zu gering, zu nichtig und unbedeutend, um in diesem Augenblick bis in sein Bewusstsein vordringen zu können.
Und so fühlte er nichts, nahm nicht einmal wahr, dass er sich so eben selbst verletzt hatte – denn er war gefangen. Gefangen in einem nicht enden wollenden Sinneszustand gähnender innerer Leere, die ihn betäubte, gar lähmte und kaum noch atmen ließ – so als würde er ertrinken, nicht dazu imstande, zu sterben, unfähig, Erlösung zu finden, verstummt und bewegungslos wie eine im endlosen Meer versenkte Statue.


Wo war sein Mut geblieben, wo seine innere Stärke? Wo die Hoffnung, die er einst seiner sterbenskranken Schwester zu Teil werden lassen hatte? Wo sein unverwüstlicher Wille, der ihn angetrieben hatte, als er schon einmal alles verloren hatte, was ihm jemals wichtig gewesen war, und als er mit der ihm verbliebenen Lebenszeit in den Reihen Doflamingos schließlich jene Welt zu zerstören versuchte, die ihm alles genommen hatte?
Er wusste es nicht, griff nach diesen lebensnotwendigen Empfindungen wie nach nie zu erreichenden Sternen und erneut knallte seine Faust gegen die Reling, bevor sich die Schraube tiefer in sein Fleisch fraß. Er wollte fühlen, etwas anderes als die Leere – irgendetwas, gleich einem emotionalen Hunger, den er nicht zu stillen wusste, während dieser ihn innerlich aufzufressen, zu zerstören drohte.


Und manchmal, in Momenten wie diesen, wenn die Leere sich anschlich, ihn plötzlich übermannte und zu ersticken versuchte, wenn er innehielt, in sich ging, in sich hineinhörte und sich konzentrierte, dann schaltete sein Verstand auf stumm, sein Blick und sein Körper erstarrten und alles Wissen, über das er je verfügt hatte, entglitt ihm schlagartig.
Er steckte in einer inneren Sackgasse, umgeben von undurchdringbaren Mauern, weit davon entfernt, zu verstehen und noch weniger, zu akzeptieren. Er verstand seine Welt nicht, verstand seine Gefühle nicht, drehte sich im Kreis, festsitzend im immerwährenden Karussell seiner rotierenden Gedanken.
Und dann – dann kamen die Zweifel, die Hilflosigkeit und die Ohnmacht, getragen von seiner Hoffnungslosigkeit und dem Gefühl, nichts, aber auch rein gar nichts tun zu können. Und wenn er sich schließlich, gequält und nicht länger dazu imstande, dieser inneren Leere standzuhalten, auf die Suche machte, in seinen Erinnerungen grub und wühlte wie vom Wahnsinn erfasst, so erhielt er einen einzigen, bitteren, impulsartigen Zugang zu seiner Seele, der auf ihn einschlug wie ein gleißender Blitz und ihn nur noch eines fühlen ließ.


Schmerz.


Und mit dem Schmerz, der ihn überrollte wie eine meterhohe, tödliche Welle, allgegenwärtig und ihm den Atem raubend, prasselten bruchstückhafte Erinnerungen wie unnachgiebiger Regen auf ihn ein, eisig kalt und brühend heiß zur gleichen Zeit.
Eingekerkert im Gefängnis seiner Vergangenheit, sah er den glimmenden Zigarettenstummel, gerahmt von blondem Haar, sah das sanftmütige, warme Lächeln – das allerletzte Lächeln, das Corazón ihm auf Biegen und Brechen geschenkt hatte. Rein auf der Ebene der Physiologie betrachtet, war es nichts weiter als ein angeborener Gesichtsausdruck, ein Anspannen der mimischen Muskulatur nahe der Mundwinkel und der Augen, ein echtes Lächeln, hervorgebracht durch 43 Bewegungsmuskeln. 43 lächerliche kontraktile Organe, so simpel und menschlich und alltäglich und doch – ohne Umschweife überkam es ihn, mit den Händen rudernd, sehnsüchtig die bebenden Finger nach der Leere ausstreckend wie der Ertrinkende, der er nun einmal war.
Keuchend, röchelnd, schnappte er nach Luft, die klammen Finger in die Reling gekrallt. Denn die Leere in ihm mochte ein grausames Gefühl sein, der Schmerz jedoch, erbaut aus kühlen Steinen der Trauer, war überwältigend und lieber blieb er hoffnungslos, lieber verlor er den Bezug zu seinem Selbst, zu seinem Körper, als sich all dem zu stellen.
Er hatte etwas, jemanden, unwiderruflich verloren und dabei hatte er, ohne darüber im bewussten Zustand entscheiden zu können, noch etwas ganz anderes verloren, nämlich sich selbst. Etwas fehlte in seinem Leben und es vereinnahmte ihn, machte seinen Körper, seine Gefühle taub und ließ seine Seele, seinen Verstand, ja sein ganzes jämmerliches Dasein gänzlich verstummen, so als würde alles, einfach ausnahmslos alles verblassen.


Die Welt um ihn herum mochte also fabelhaft, bunt und farbenfroh sein, so wunderschön, dass sie in jedem anderen augenblicklich den Wunsch hervorkitzelte, die Zeit würde stehen bleiben und der Moment niemals enden. Sie mochte endlos erscheinen, in ihrer natürlichen Wesensart gar vollkommen und malerisch, eine verspielte, lebendige Collage, von warmgoldenem Licht gesäumt, pastellblau und samtig weich...
Für Trafalgar D. Water Law aber herrschten Stagnation und Stille, denn seine zertrümmerte Seele, das Überbleibsel eines gebrochenen Herzens, hüllte alles ausnahmslos in eine Decke der Tristesse und Düsternis. Und so sah er sich einer eintönigen Welt gegenüber, einer bewegungslosen Kugel aus taubem, harten, undurchdringbaren Eis, einzig bestehend aus farblosen Nuancierungen – eine trostlose Melange aus Schwarz und Weiß, gefühlsleer und leidenschaftslos.


Kunterdunkelgrau.

Kunterdunkelgrau [Trafalgar Law]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt