Teil 16 - Missverständnisse

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"Das wird wohl noch etwas länger warten müssen. Auch wenn es dich überraschen mag, aber ich bin gerade dabei, den äußeren Wehrgang zu erneuern. Oder hast du schon vergessen, was du alles auf meine endlos lange Aufgabenliste geschrieben hast?"

"Kann mich schwach daran erinnern. Brauchst du Hilfe?"

"Jetzt noch nicht, ich säge erst einmal die Bohlen zurecht. Aber später könnte ich dich brauchen, wenn der Hauptbalken befestigt werden muss. Es sei denn, du bist zu sehr angeschlagen nach deiner Jagd ..."

"Ich komme nachher zu dir. Zuerst bringe ich Thalia ihre Harpyien."

"Lass dir Zeit." Lambert grinste anzüglich.

Eskel trug die Beute zur Haupthalle und ging dann die Treppe zum Labor hinunter. Als er den Raum betrat sah er, dass Thalia offenbar bereits alles vorbereitet hatte. Einer der Arbeitstische stand freigeräumt in der Mitte des Labors, daneben ein Ablagetisch, auf dem eine große Anzahl chirurgischer Instrumente lagen. Skalpelle in unterschiedlichen Größen, Zangen, Pinzetten und andere Werkzeuge lagen säuberlich aufgereiht auf einem Tuch. Thalia trug eine Schürze über ihrem Kleid, ihr Haar hatte sie locker zusammengesteckt. Als sie seine Ankunft bemerkte, drehte sie sich lächelnd zu ihm um. Freudig überrascht hob sie die Brauen.

"Eskel! Du hast gleich zwei Harpyien erlegt!"

"Eigentlich waren es vier. Sie greifen meistens im Rudel an. Aber zwei erlitten einen Genickbruch, sodass ich dir nur diese hier bringen kann."

"Zwei reichen vollkommen. Legst du eine bitte direkt auf den Tisch?"

Eskel löste das Seil, mit dem die beiden Kadaver verschnürt waren und platzierte eine der toten Harpyien wie geheißen. Neben dem Tisch hatte Thalia bereits drei Laternen positioniert, um ihr Arbeitsfeld zu erhellen.

Thalia drehte die Hybride auf die Seite, um besseren Zugang zum Spinalkanal zu bekommen. Sie tastete vorsichtig mit den Fingern am Rückgrat entlang und prüfte die Unversehrtheit. Dann sah sie zu Eskel auf.

"Vielen Dank, Eskel. Diese hier scheint perfekt zu sein."

"Kennst du dich mit der Anatomie von Harpyien aus?"

"Ich habe bisher noch keine seziert, falls du das meinst, aber in euren Büchern habe ich zahlreiche Abbildungen gefunden. Damit sollte ich zurechtkommen. Aber ... wenn du möchtest ... und wenn du Zeit hast ..."

"Habe ich."

"Also dann ... lass uns anfangen."

Sie beugte sich über den Kadaver und fuhr mit den Fingern Wirbel für Wirbel nach. "Laut den Aufzeichnungen in diesem Buch sollte die beste Stelle zur Entnahme der Zerebrospinalflüssigkeit zwischen dem dritten und vierten Wirbel liegen. Das müsste hier sein, oder?"

"Ja, das ist die Stelle", bestätigte Eskel.

Thalia nahm ein Skalpell zur Hand und setzte es zwischen den Wirbeln an. Hochkonzentriert schnitt sie durch die grau-braune Haut der Harpyie in das darunterliegende Gewebe. Dabei war sie so konzentriert, dass sie sich unbewusst auf die Lippe biss. Sie hätte grotesk ausgesehen, wenn sie nicht gleichzeitig so hinreißend gewesen wäre. Eskel spürte, wie sich ein Lächeln auf seine Lippen stahl. Er drehte sich kurz weg, damit sie nichts davon gewahr wurde. Als er seine Züge wieder unter Kontrolle hatte, beobachtete er wieder ihre Arbeit.

Sie führte das Skalpell mit absoluter Präzision, nahm dann eine Zange zu Hilfe, um die entstandene Öffnung zu spreizen. Dabei ging sie mit viel Gefühl vor, um das umliegende Gewebe nicht unnötig in Mitleidenschaft zu ziehen. Eine Einblutung in den geschaffenen Zugang hätte die gewonnene Flüssigkeit unbrauchbar machen können. Eskel konnte nicht umhin, ihren geschickten Umgang mit den chirurgischen Instrumenten zu bewundern.

Das Herz der Alchemie (The Witcher FF)Where stories live. Discover now