Kapitel 21

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Als ich später in meinem Bett lag, konnte ich nicht aufhören zu lächeln und wenn ich ehrlich bin - ich wollte es auch nicht. Heute war so viel passiert, dass ich mir  manchmal  nicht sicher war, ob sich das alles tatsächlich so ereignet hatte oder einfach nur ein Traum war. Vielleicht lag es daran, dass ich noch nicht alles registriert hatte. Es schien mir einfach viel zu unrealistisch, dass Sam mich wirklich geküsst hatte. Ich meine, was genau hat ihn dazu gebracht, ausgerechnet mich zu küssen? Es gibt schließlich noch genug andere Mädchen, die er haben könnte. Welche, die hübscher, klüger, selbstbewusster und schlanker sind. Aber er hat sich für mich entschieden. Warum? Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, wie es jetzt mit uns weitergeht. Sind wir jetzt in einer Beziehung? Hat er mich nur so zum Zeitvertreib geküsst? Liebt er mich? So viele Fragen in meinem Kopf, auf die ich alle keine Antwort hatte. In meinem Kopf drehte sich alles und ich schloss für einen kurzen Moment die Augen. Mir war ein bisschen schwindelig, ich wusste nur nicht ganz woher das kam. Von der Infusion? Oder war es einfach nur Glück? Ich tippte eher auf letzteres, aber sicher war ich mir nicht. Müde war ich auch, doch ich konnte nicht schlafen, egal wie sehr ich es versuchte. Das einzige, wozu ich in der Lage war, war lächelnd in meinem Bett zu liegen und die Zimmerdecke anzustarren. Ich weiß nicht, wie lange ich schon so da lag, als plötzlich mein Handy vibrierte. Sofort tastete ich danach und drückte die Entsperrtaste. In der Dunkelheit leuchtete das Display noch viel heller als sonst und ich brauchte einige Sekunden, um mich daran zu gewöhnen. Als ich endlich genug erkennen konnte, stellte ich fest, dass ich eine neue Nachricht auf Whatsapp hatte. Sie war von Sam. Mein Herz klopfte aufgeregt, als ich sie öffnete. Vielleicht bekam ich jetzt endlich die Antworten auf einige meiner Fragen? Doch er schrieb nur: Bist du noch wach?

Mein Lächeln wurde breiter. Allein die Tatsache, dass er um halb eins nachts mich gedacht hatte, machte mich glücklich.

Ja, bin ich , antwortete ich und war komischerweise nicht einmal enttäuscht, dass er keine meiner Fragen unbewusst beantwortet hatte.

  Geht's dir denn besser?, schrieb er und mein Herzschlag setzte einmal aus. Wie süß, dass er mich fragte, wie es mir ging. Er war nämlich irgendwann nach unserem Kuss aus dem Krankenwagen geschickt worden (warum auch immer) und seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört und er nichts von mir.

Ja, tippte ich, auf jeden Fall. Sam brauchte nicht lange, um zu antworten. Das freut mich , stand in seiner Nachricht und darüber freute ich mich noch mehr. Eine Weile lang wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Sollte ich ihm eine meiner Fragen stellen? Ihn aus heiterem Himmel fragen: Hey, warum genau hast du mich geküsst? Das erschien mir aber irgendwie seltsam, also ließ ich es bleiben. Gedankenverloren wanderte mein Blick zur Decke. Als ich ihn wieder aufs Display richtete, war dort längst eine Neue Nachricht von ihm: Kannst du auch grad nicht schlafen?  

Nein, antwortete ich und setzte noch einen Smiley hinterher.

Ich auch nicht, schrieb er zurück und wenige Sekunden später: Muss wohl zu viel an dich denken... ❤  Das war mit Abstand das süßeste, was mir jemand geschrieben hatte. Nicht mal mein Exfreund hatte das jemals toppen können, was wohl auch ein Grund war, warum es zwischen uns nicht so ganz geklappt hatte. Er hatte nie seine Gefühle gezeigt und mittlerweile verstand ich auch nicht, was ich jemals an ihm hatte finden können. Aber da hatte ich Sam auch noch nicht gekannt.

Bei mir ungefähr das gleiche , tippte ich und vergrub kopfschüttelnd mein Gesicht in meinem Kissen. War das gerade wirklich die Realität? Mein Handy vibrierte wieder und ich setzte mich auf, um Sams Nachricht zu lesen. Soll ich vielleicht bei dir vorbeikommen?, fragte er und mir fiel fast das Handy aus der Hand. Es war mitten in der Nacht und Michelle war ja schließlich auch noch da. Ich weiß nicht ob meine Tante das so gut finden würde  und ist es halb eins morgens... aber eigentlich ist das keine schlechte Idee , antwortete ich und setzte mich an die Bettkante. Ich hatte auf einmal wahnsinnig Durst und aufs Klo musste ich auch. Mit meinem Handy in der Hand machte ich mich auf den Weg nach unten. Ab der Hälfte der Treppe wurde ich stutzig. In der Küche brannte noch Licht! Um diese Zeit? Zögernd stieg ich weiter die Treppe hinab. Bis auf den schwachen Lichtstrahl, der durch den kleinen Spalt der abgelehnten Küchentür fiel, war alles in vollkommene Dunkelheit gehüllt. Einige Stufen quietschten leise unter meinen bloßen Füßen und aus irgendeinem Grund begann ich zu frösteln. Als ich endlich unten angekommen war, spähte ich zunächst durch den Türspalt, konnte allerdings nichts erkennen. Vorsichtig stieß ich die Tür ein bisschen weiter auf -  und entdeckte Michelle, wie sie mit einem riesigen Stapel Ordner und Papiere am Tisch saß. Langsam setzte ich einen Fuß in die Türschwelle und eine Holzdiele knarrte unter meinem Gewicht. Michelle sah auf und ihre Leserbrille rutschte ihr beinahe von der Nase. "Sarah", rief sie fast schon ein bisschen vorwurfsvoll, "was machst du denn hier? Und  um die Zeit!" Ich warf einen Blick auf den Tisch und die vielen Unterlagen. "Dasselbe könnte ich dich auch fragen", murmelte ich, war mir aber nicht ganz sicher, ob sie es auch wirklich gehört hatte. "Ich wollte mir nur was zu trinken holen. Und du?", setzte ich deshalb hinterher. Meine Tante stand auf, nahm ein Glas aus dem Küchenschrank und seufzte. "Bankunterlagen. Ich muss bis morgen noch ein paar Steuererklärungen ausfüllen und Rechnungen bezahlen." Sie füllte das Glas mit Leitungswasser und stellte es auf den Tisch, an eine Stelle, die nicht mit Blättern übersät war. "Wie geht's dir denn? Schon ein bisschen besser?" Ich nickte und rückte mir einen Stuhl zurecht. Michelle lächelte. "Das ist schön." Sie nahm gegenüber von mir Platz und fing an, sich wieder um ihre Papiere zu kümmern. Eine Weile saßen wir einfach nur so da, bis ich all meinen Mut zusammennahm und Michelle das fragte, was ich schon die ganze Zeit über loswerden wollte: "Kann Sam vorbeikommen? Jetzt?" Meine Tante räusperte sich und legte den Stift beiseite. In dem Blick, den sie mir zuwarf, lag so viel Liebe und Verständnis, wie ich nie im Leben erwartet hätte. "Du magst ihn, oder?", sagte sie leise. "Ja", flüsterte ich. Michelle lächelte. "Ich war ja auch mal so jung wie du. Das ist zwar schon eine Weile her, aber ich weiß trotzdem ganz genau wie du dich fühlst. Und Sam... er ist ein toller Junge und ich mag ihn. Zwar nicht auf die Art und Weise wie du, aber ja, ich finde ihn echt nett. Das wichtigste ist, dass er dich glücklich macht und so wie ich dich in den letzten Tagen erlebt habe, tut er das. Er hat dich wirklich verdient, Sarah und so wie es aussieht, hat er dich auch echt gern. Wegen mir kann er gerne vorbeikommen, ihr seid ja beide alt genug."  Ich sprang auf und fiel meiner Tante um den Hals. "Vielen Dank", sagte ich und drückte ihr noch schnell einen Kuss auf die Wange, bevor ich mein Handy aus der Hosentasche zog und Sam eine Nachricht schrieb, dass er kommen konnte. Alles klar, bin in 15 Minuten bei dir, war seine Antwort und ich setzte mich wieder hin, um mein Glas leer zu trinken.

Genau eine Viertelstunde später klingelte es an der Haustür. Ich machte Anstalten aufzustehen, aber Michelle schüttelte den Kopf. "Ich geh schon." Es dauerte nicht lange, da kam sie auch schon mit Sam im Schlepptau zurück. Er trug - genau wie ich - eine Jogginghose und ein ausgeleiertes Sweatshirt und sah trotzdem noch perfekt aus. Zumindest für mich. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb er zögernd im Türrahmen stehen, doch dann lief er auf mich zu. Gleichzeitig sprang ich von meinem Stuhl auf und ließ mich in seine ausgebreiteten Arme fallen. Ich schloss die Augen und vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. "Ich hab dich vermisst", flüsterte ich und legte meinen Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht sehen zu können. "Ich dich auch", sagte er und drehte eine meiner Haarsträhnen zwischen seinen Fingern. (Er konnte es einfach nicht lassen.) "Also ehrlich gesagt, bin ich doch ganz schön müde", erklärte Sam nach einer Weile  und ließ meine Haare los. "Ich auch", meinte ich und griff nach seiner Hand. "Gute Nacht, Michelle." Meine Tante sah kurz von ihrem Papierstapel auf. "Nacht." Ich zog Sam aus der Küche und schloss die Tür. "Du hast echt ne coole Tante", sagte er und kitzelte mich mit meinen eigenen Haaren an der Wange. "Stimmt", gab ich zu. "Das hätte nicht jede erlaubt." Sam nickte bedächtig. Plötzlich hob er mich hoch und trug mich die Treppe hinauf. Darauf war ich überhaupt nicht gefasst gewesen und kreischte vor Schreck kurz auf. Dann fing ich an zu lachen und krallte mich in der Kapuze seines Sweatshirts fest. Er fiel in mein Lachen mit ein und schaffte es trotzdem, mich bis unter das Dachgeschoss zu tragen. Michelle hatte sowas von Recht: Sam machte mich glücklich. Und wie. Behutsam ließ er mich runter und nahm mein Gesicht in seine Hände. Für einen kurzen Moment sah ich Sams Augen liebevoll aufblitzen, bevor er seine Lippen sanft auf meine drückte und er  eine Hand um meine Taille, die andere um meinen Hinterkopf legte. Diese Geste hatte ich schon so oft in irgendwelchen Filmen gesehen und ich fand sie jedesmal passend, denn sie wirkte beschützend und besitzergreifend zugleich. Ein kleiner Teil von mir konnte immer noch nicht so richtig glauben, was hier passierte, aber der größere Teil vergaß gerade alles um sich herum. Doch auf einmal löste Sam sich von mir. "Das habe ich vermisst", gestand er und fuhr sich durch die Haare. "Geh du schonmal vor, ich komme gleich wieder." Ehe ich realisiert hatte, was er gemeint hatte, war er auch schon wieder verschwunden. Na gut. Was auch immer er vorhatte, er hatte gesagt, ich solle nicht auf ihn warten. Also öffnete ich meine Zimmertür und kuschelte mich in mein Bett. Kurz darauf kehrte Sam auch schon wieder zurück. Er hatte etwas hinter seinem Rücken versteckt und setzte sich nun zu mir. "Hier", sagte er, "die sind für dich." Er zog einen großen Blumenstrauß hervor und grinste verlegen. "Gefallen sie dir?" Ich war so vollkommen von der Rolle, dass ich erst einmal total sprachlos war. Noch nie hatte mir jemand Blumen geschenkt, von Werbegeschenken mal abgesehen. Das war so unglaublich lieb von ihm, ich konnte es gar nicht in Worte fassen. "Ja", flüsterte ich deshalb (was blieb  mir denn anderes übrig?) und lächelte. "Sie sind wunderschön." Ich zögerte kurz, doch dann zog ich seinen Kopf zu mir und küsste ihn. "Danke." Er grinste und legte sich neben mich. "Keine Ursache."

Als ich an diesem Abend einschlief, in Sams Armen, hatte ich das Gefühl, ich wäre der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt. Und wer weiß - vielleicht war ich das ja auch.

Next Station: New York City *abgeschlossen*Where stories live. Discover now