Kapitel 7

235 11 4
                                    

Während der gesamten Fahrt zu dem kleinen Chinarestaurant redete ich ununterbrochen. So wie Isabelle es mir aufgetragen hatte erzählte ich Annie (der netten Asiatin von der Freiheitsstatue) alles,  was ich bisher in New York erlebt hatte. Auf der Liste stand zwar, ich solle meine Geschichte erzählen,  aber irgendwie war mir nicht wirklich klar,  was damit gemeint war. Bis ich hierher gekommen war, gab es ja nicht sonderlich viel über mich zu erzählen. Jetzt hatte ich das Gefühl,  in den letzten Tagen mehr erlebt zu haben als je zuvor.

Ich redete und redete, aber der Weg von der Freiheitsstatue bis zum Lokal dauerte schließlich nicht ewig und irgendwann blieb Annie vor einer verglasten Wand stehen. Sie drückte die schmale Holzür auf,  die die Glasfront in zwei Teile spaltete und machte eine einladende Geste. "Da wären wir." Zögernd betrat ich das Restaurant und sah mich erst einmal um. Rund fünfzehn kleine Tische standen im ganzen Raum verteilt,  ein paar waren auch besetzt.  Die Wände waren rot -golden gestrichen und mit schwarzen Schriftzeichen verziert und überall standen Lampions und Bambuspflanzen. Aber das Zentrum des Ganzen war die langgezogene Bar aus Ebenholz,  die direkt an die Küche angrenzte. Von dort strömte ein unfehlbarer Gruch nach asiatischem Essen auf mich ein und mein Magen protestierte empört.  Kein Wunder,  meine letzte Mahlzeit lag ja auch schon einige lange Stunden zurück.  Annie lachte. "Komm,  wir setzen uns an die Bar. Mein Bruder kocht uns gleich die Spezialität des Hauses", sagte sie und winkte einem schlaksigen Mann zu. Er kam sofort herbeigeeilt und hatte ein breites Grinsen im Gesicht. "Sarah - mein Bruder Jem;  Jem,  das ist Sarah. Kannst du uns deinen berüchtigten Nudeleintopf machen?" Annie zwinkerte ihm lächelnd zu. Jem verdrehte die Augen und zerstrubbelte ihr langes schwarzes Haar,  ohne dabei mit dem Grinsen aufzuhören. "Wird gemacht."  Genau wie seine Schwester war er mir sofort sympathisch. Erschöpft kletterte ich auf einen der sechs Barhocker und ließ meine Tasche auf den Boden fallen,  während Annie sich neben mir niederließ.  "Jem macht den besten Nudeleintopf,  den es gibt", erklärte sie verschwörerisch.  Als kurze Zeit später ein Teller mir dampfenden Glasnudeln,  Gemüse und ziemlich viel Curry vor mir stand,  musste ich ihr wohl oder übel Recht geben. Obwohl es mir im Moment nur darum ging,  überhaupt etwas zu Essen zu bekommen,  würde ich Jems Nudeleintopf nur ungerne wieder herausrücken.  "Und, schmeckt's dir?", fragte Annie. Ich nickte nur. Antworten konnte ich nicht,  ich schlang das Gericht dermaßen schnell herunter,  als hätte ich seit Tagen nichts mehr gegessen. "Oh nein!", fluchte Annie plötzlich. Inzwischen hatte ich den Bissen runtergewürgt und sah sie besorgt von der Seite an. "Was ist denn los?"

"Unsere Kellnerin hat sich den Fuß gebrochen und kann nicht arbeiten. Dabei haben wir übermorgen unser 5-jähriges Jubiläum,  da brauchen wir sie!" Sie sah mich kläglich an. "Was machen wir denn jetzt?" Ratlos starrte ich eine Weile vor mich hin,  doch dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. "Annie", sagte ich mit so viel Überzeugung,  wie ich aufbringen konnte,  "was hältst du davon,  wenn ich kellnere?" Langsam,  ganz langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. "Das würdest du für uns tun?", strahlte sie. "Wie viel möchtest du denn dafür haben?" Ich schüttelte den Kopf. "Ist schon in Ordnung,  ich mach das ohne Bezahlung." Annies Mundwinkel wanderten - falls das überhaupt noch möglich war - noch weiter nach oben. "Danke! Vielen,  vielen Dank!", flüsterte sie und fiel mir ohne Vorwarnung um den Hals. Ich wusste gar nicht,  dass man jemanden so glücklich machen kann,  nur indem man versprach,  an einem Tag beim Kellnern auszuhelfen.  Doch dann wurden mir meine Worte bewusst. Ich würde mit meiner Tollpatschigkeit bestimmt alles kaputt machen!  Würde das gut gehen?

Next Station: New York City *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt