Kapitel 6 - Sehnsucht

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Sehnsucht

Die Lehrerin teilt zuerst die linierten Blätter aus, danach die Angaben. Gerade legt sie ein umgedrehtes Blatt vor mir auf dem Tisch. Ein Klumpen bildet sich in meiner Kehle und ich habe das Gefühl, als würde er meine ganze Luftzufuhr abdrücken. Panisch ringe ich nach Luft, versuche mich zu beruhigen, atme tief ein und aus, doch trotzdem bleibt das Gefühl.

„So ihr dürft jetzt eure Blätter umdrehen und beginnen, ich wünsche euch viel Glück“, schallend hallt die Stimme von meinem Philosophielehrer Berger durch den Raum.

Neben mir sitzen noch fünf andere Schüler im Raum, alle beginnen sie zu schreiben und wie wild kritzeln sie auf ihren Blättern. Ich dagegen sitze immer noch da und starre mit leicht geöffnetem Mund das leere Blatt vor mir an.

„Ist alles okay bei dir, Jasmin?“, fragt der Lehrer, ich brauche einen Moment um zu verstehen, dass er mich meint. Ich nicke langsam und stockend, schaue erneut auf die Aufgabenstellung, greife nach meinem Stift und löse zögernd mit einem Klicken den Deckel.

Unsicher setze ich die Feder auf das leere Papier auf. Ein Strich, ein weiterer. Bis mein Name in zittriger Name auf dem Papierbogen steht.

Tick, tack, tick, tack.

Das Ticken der Uhr bohrt sich in meinen Gehörsinn, in mein Gedächtnis. Das rhythmische Ticken nimmt mich vollkommen ein. Die Realität wabert, vermischt sich mit meinen Gedanken. Innere Stimmen werden laut.

„Du schaffst das nie!“ - „Gib auf, du kannst nichts!“ - „Die Zeit rennt dir davon!“ - „Beeil dich, sonst gibst du ein unbeschriebenes Blatt ab!“ - „Die Note zählt fürs Abi, wenn du jetzt nichts schreibst, fällst

du durch!“ - „Versager!“

Alles verschwimmt. Die Buchstaben tanzen wie wild auf dem Blatt Papier, sie vereinigen sich schließlich zu einer grauen Masse die mein ganzes Blickfeld einnimmt. Dann wird es plötzlich schwarz. Dunkler als eine bewölkte Neumondnacht jemals sein wird.

Als ich das nächste mal meine Augen aufschlage und mir das grelle Licht entgegenblickt, liege ich im Krankenzimmer unserer Schule. Neben dem Bett stehen Melanie und Celine. Melanie, die Braunhaarige, hält meine Hand und lächelt mich breit an, als ich verwundert umherschaue. „Was ist passiert“, krächze ich und sie erzählen mir, dass ich ohnmächtig geworden bin.

Ich versuche das mit meinen Erinnerungen zu kombinieren und ich komme zu dem Schluss, dass das wohl die Dunkelheit war, die ich als letztes in Erinnerung behielt. „Deine Mutter hat mich auf dem Handy angerufen, ich war gerade in einer Lesung. Sie erhielt anscheinend einen Anruf von der Schulleitung, dass es besser wäre, wenn man dich abholen würde“, sagt Celine, deren wasserstoffblondes Haar beinahe so blass war wie die Wandfarbe. Ich nicke und bedanke mich bei den beiden.

Frau Kowalski, die Krankenschwester, die an unserem Gymnasium angestellt war, riet mir mich auszuruhen und viel zu trinken. Außerdem meinte sie, dass ich mich mehr auf mich selbst konzentrieren sollte und mir nicht so viel Stress wegen den Klausuren machen sollte. „Du kannst dich gerne an die Schulpsychologin wenden. In der Zeit vor dem Abitur geht es vielen Schülern so wie dir. Mach dir nichts draus, das wird schon wieder.“ Ihr Lächeln ist warm.

Wir verabschieden uns. Meine beiden Mitbewohnerinnen laufen vorneweg zu Melanies alten, roten Aute und ich stapfe ihnen hinterher. Mir ist immer noch nicht so gut aber ich freue mich, dass die beiden mich abholen, obwohl sie das gar nicht müssten und eigentlich in einer Lesung sitzen müssten.

Wir steigen in den Wagen und während der Fahrt über singen die beiden Studentinnen die Lieder aus dem Radio mit und ich sitze einfach auf der Rückbank, mit dem Kopf an das kalte Fenster gelehnt und denke an Chris.

Hoffentlich kann er schon heute Abend kommen. Ich seufze und sehe nach draußen. Die ersten Lichter werden angeknipst und die Dämmerung legt sich über das novemberliche Düsseldorf. Die Autos ziehen an uns vorüber wie ein Strom.

Nach etwas mehr als einer Viertelstunde Fahrt erreichen wir die WG. Ich bedanke mich nochmal bei den beiden und verschwinde in mein Zimmer. Wütend, über den Ausfall in der Klausur werfe ich meine Büchertasche in die Ecke und lasse mich ermattet auf meinem Bett nieder. „Ich vermiss dich, Chris“, flüstere ich in die Stille des Raumes. Und wie als hätte er es gewusst, dass ich just in diesem Moment an ihn denke, blinkt mein Handy auf.

„Kann heute leider nicht kommen.“ Schwarze Letter starren mir entgegen und sie überbringen mir die Botschaft, dass ich diesen Abend ohne meinen Schatz verbringen muss. Ich bin enttäuscht und vermisse ihn so sehr. Seufzen und dann eine Tränen. Ich habe Chris schon so lange nicht mehr gesehen und es tut mir so weh, zu hören, dass er nicht bei mir ist, und zu wissen, dass er sich jetzt wieder selbst verletzen könnte.

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⏰ Last updated: Jul 20, 2014 ⏰

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