Kapitel 4 - Große Lücken

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Große Lücken

„Und wie war dein Tag?“, frage ich Chris. „Ich weiß nicht...“, seine Stimme ist zittrig, fast lautlos. Erschrocken schaue ich auf, sehe mein Gesicht in der Fensterscheibe widerspiegeln, im Hintergrund mein unaufgeräumtes Zimmer, in dem sich die Schulbücher nur so stapeln. „Wie, du weißt nicht?“, hake ich nach. „Ich hab fast keine Erinnerung an diesen Tag heute“, seine Worte, fast nur ein Hauch, erreichen mein Ohr nur ganz leise, doch sie treffen mich tief und hart. Innerlich schreie ich entsetzt auf, doch das einzige was ich tue ist auszuatmen, laut und lange ausatmen, damit der Schmerz mich nicht sensibel werden lässt. Ich möchte für ihn stark sein, eine Stütze an der er sich halten kann, wenn der Wind ihn wegwehen möchte, wie eine Spielfigur, die man einfach dorthin setzen kann wohin man möchte, solange es die Regeln es denn erlauben.

Mein Herz fühlt sich an, als würde es zerbersten oder in viele kleine Einzelteile zerteilt werden,um anschließend wieder zusammengefügt zu werden. Es tut so weh zu wissen, dass es Chris wieder schlecht geht. Ich möchte nur, dass wir endlich diese Zeit überwunden haben. Ich wünschte, diese Hürde hätten wir endlich überwunden, doch solche Ereignisse wie diese, machen alle Hoffnungen zunichte. Gerade wenn ich denke, dass es endlich aufwärts geht, werde ich von neuem enttäuscht. Vor kurzem erst hat sich Chris wieder selbst verletzt und manchmal habe ich das Gefühl, dass es mich mehr trifft als ihn. Für ihn ist sein Körper nichts wert, es ist ja nur ein Stück Fleisch, doch das Herz, dass flehentlich darin schlägt, vergisst er dabei. Es tut weh zu sehen, dass jemand seinen Körper, ja sich selbst, so sehr verachtet. Ich wünschte ich wüsste, wie ich ihm helfen kann. Nach Minuten der Stille, dringt Chris Stimme an mein Ohr.

„Jasmin? Was denkst du dir gerade?“, reißt mich seine Stimme aus meinen Gedanken.

Ich überlege, was ich sagen soll und entschließe mich zu lügen: „Nichts.“

„Du weißt, dass ich dir das nicht glaube?“

„Ich weiß“, seufze ich und lehne meine Stirn an das kalte Glas der Fensterscheibe. Draußen regnet es, es ist dunkel und das einzige Licht spenden die diesigen Straßenlaternen. Autos fahren die Straße entlang und sehen mich hier oben nicht, ich fühle mich wie betäubt, ich fühle mich alleine, obwohl ich mit Chris telefoniere.

„Aber das ist egal“, erwidere ich, „Wann kommst du am Freitag?“

„Ich weiß nicht, ob ich rechtzeitig Schluss machen kann auf der Arbeit, weil ich möchte nicht in den Feierabendverkehr rutschen, sonst stehe ich wieder ewig lang, mein Schatz... Es kann sein, dass ich erst samstagmorgens komme. Tut mir leid, mein Engel.“

Ich bin ein wenig enttäuscht, vermisse ihn doch so sehr, empfindet er das etwa nicht für mich, sonst würde er sich um Mitternacht noch in sein Auto setzten um mich zu besuchen. Zweifel fressen mich mal wieder auf, ganz leise, ganz unbemerktn, nagen sie in meinem Inneren. Ich schlucke sich anbahnende Tränen runter und flüstere ein hauchdünnes „Okay“ in den Hörer.

„Schatz ich liebe dich“, kaum hörbar dringt seine Stimme an mein Ohr.

Ich lege meine Handflächen an die Fensterscheibe, stelle mir vor, dass er auf der anderen Seite des Glases stünde. „Ich dich auch“, schluchze ich, „ich dich auch...“ Schnell wische ich die Tränen aus meinem Gesicht, atme tief durch, versuche meine verletzten Gefühle zu verbergen. Wir reden noch eine Weile und ich bin ein weniger gefasster.

Es ist kalt, ich stehe an der Fußgängerampel und der eisige Wind weht mir ins Gesicht, er beißt in den Augen. Die eisige Luft fühlt sich an wie tausende Nadelstiche auf meiner Haut. Die Lichter der Autos ziehen an mir vorbei, die weißen Vorderlichter und die rot leuchtenden Rücklichter. Dazwischen die Lichter der abbiegenden Autos. Ich finde das Farbspiel wunderschön, doch es erinnert mich daran, dass ich daneben fahl aussehe wie eine weiße Wand, unbeschrieben und unbeachtet. Mich wird man nicht bemerken, nicht in diesem Meer aus Lichtern. Alle leuchten sie und ich bin nur ein dunkler Punkt, für niemanden sichtbar.

Die Ampel schaltet auf grün und ich überquere gedankenverloren die Straße. Nach dem Gespräch vorhin am Telefon, da musste ich einfach raus, raus aus der engen Wohnung, aus dem kleinen Zimmer und hinein in die glaklare Nach, die den Beginn des Winters verkündet. Automatisch verstecke ich mein Gesicht zur Hälfte hinter dem Schal um mich vor dem kalten Wind zu schützen, der eisig durch die nächtlichen Straßen fegt.

Eigentlich würde ich gerade in meinem Zimmer sitzen für den nächsten Morgen lernen und mein Schulzeug packen. Fast bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht für die Arbeit am Freitag lerne. Ich vergeude mal wieder maßlos meine Freizeit und am Ende rassle ich durch das Abitur.

Ich schiebe den Gedanken beiseite und erreiche die andere Straßenseite, ein Autofahrer hupt, ein anderer zeigt ihm den Mittelfinger. Ich laufe weiter auf den Park zu, der mit Laternen ausgeleuchtet ist. Nirgendswo Dunkelheit, in der ich eintauchen könnte, in der ich, ich selbst sein darf. In der WG sind mir die Wände zu dünn um zu weinen, alle Wut rauszuschreien, meine Verzweiflung laut zu machen oder einfach wieder das kleine Mädchen sein, dass ich einst mal war. Das sich immer im Schoß des Vaters geborgen gefühlt hat und weinte, als ein toter Vogel auf dem Fußweg lag, dass es dann gemeinsam mit ihrem Vater, ihrem persönlichen Helden, im Garten beerdigt hatte.

Ich habe gerade den Park erreicht, da renne ich einfach los, immer weiter hinein, in den Park, in das Grün, das mich vollkommen umhüllt. Grün ist die Farbe der Hoffnung, vielleicht gibt es die ja noch für mich, vielleicht auch für Chris. Ich hoffe es. Ich hoffe es. Ich renne schneller, meine Beine tragen mich immer weiter in das Innere, immer weiter in das Herz. Ich fühle mich frei, laufe so schnell, dass mich meine Sorgen für einen Moment nicht einholen, ich habe sie für einen Augenblick hinter mich gelassen, das einzige, was ich spüre, ist der Wind und die winterliche Kälte. Zu allem Überfluss, zu aller Kälte, beginnt es bitterkalt zu regnen. Der Regen weicht mich auf und die Kälte kriecht an meinen Beinen hoch, sie lechzt nach mir, und mir wird stetig kälter. Jetzt müsste ich eigentlich umkehren, doch ich möchte die Sorgen nicht mehr an mich heranlassen, mein Zimmer ist zu eng, zu bedrückend. Ich renne weiter, immer weiter.

Heute weiß ich gar nicht mehr, wie ich nachhause gekommen bin, ich kann mich nur noch erinnern, dass ich mich durchnässt und mit klappernden Zähnen weit nach Mittagnacht heimgekommen bin und mich so unter die Dusche gestellt habe. Eine meiner Mitbewohnerinnen hat das mitbekommen und mir noch einen Tee gekocht und eine Wärmflasche in mein kaltes, einsames Bett gelegt. Sie hat nicht nachgefragt, sie hat mir einfach einen unendlichen Gefallen gemacht und hat ihre Fragen für sich behalten. Gott sei Dank! In diesem labilen Zustand hätte ich bestimmt alles einfach rausgelassen und mich nicht um die Folgen geschert, hätte nicht an das Versprechen gedacht, dass ich einst Chris gegeben habe, bevor er mir alles erzählt hatte.

Ungerechte WeltWhere stories live. Discover now