2. Kapitel

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Carlos

Unruhig rutschte ich zwischen Luca und diesem anderen Typen hin und her. Noch nie hatte ich es so eilig gehabt, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Eigentlich war ich um jede Minute dankbar, die ich nicht zu Hause verbringen musste. Es war nicht so, dass ich ständig Stress mit meinen Eltern hatte, aber ich ertrug diese depressive Stimmung, die unsere Wohnung mittlerweile seit zwei Jahren ausstrahlte, einfach nicht mehr. Ich wusste genau, dass es meinem Vater genauso ging, da er in letzter Zeit abends immer viel länger weg blieb, obwohl der Laden, in dem er arbeitete eigentlich um sieben Uhr schloss. Auch nachts haute er manchmal einfach ab und fuhr mit dem Auto irgendwohin.

Mir war klar, dass er einfach ziellos durch die Innenstadt kurvte, weshalb ich auch jedes Mal, wenn ich mich nachts da rumtrieb, verdammt vorsichtig sein musste. Einmal hatte ich seinen Wagen von weitem gesehen, als ich mit noch abgefuckteren Typen als diesen Dreien hier unterwegs gewesen war. Seit dieser Nacht lief ich nur noch mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze durch die Innenstadt.

Es wäre schliesslich katastrophal gewesen, wenn er mich mal irgendwo entdeckt hätte. Die Stimmung zu Hause war durchgehend schon genug gedrückt, da brauchte mein Dad mich nicht auch noch mitten in der Nacht sturzbetrunken in der City zu erwischen. Schliesslich rastete er gerne mal ziemlich schnell aus und auf das konnte ich ganz gut verzichten. Ich hatte schliesslich schon mehr als genug andere Probleme am Hals.

Es machte mich einfach innerlich fertig, zu wissen, dass Enrique nun nicht mehr im Zimmer neben mir pennte oder sich die ganze Nacht lang Serien reinzog. Deshalb war jeder Augenblick, den ich draussen mit meinen Freunden verbringen konnte, eine willkommene Abwechslung.

Aber jetzt musste ich dringendst nach Hause und zwar schneller, als dieser Idiot hinter dem Steuer den Zeiger auf dem Tacho in die Höhe jagte. Cathy hatte beunruhigt und ängstlich geklungen, was sich nun automatisch auf mich übertragen hatte. Obwohl ich früher schon immer ein enges Verhältnis zu Cathy und auch zu meiner jüngeren Schwester Luiza gehabt hatte, fühlte ich mich nun noch näher zu ihnen hingezogen.

Seit Enrique nicht mehr da war, war mir klar geworden, wie wichtig es war, jede freie Minute mit den Menschen zu verbringen, die man liebte. Denn genau diese Zeit konnte von einem Augenblick auf den anderen einfach vorbei sein. Ausserdem würde ich alles dafür tun, um meine Schwestern zu beschützen und für sie da zu sein. Das hatte ich mir irgendwann, nachdem das mit Enrique passiert war, selber geschworen. Für ihn hatte ich nicht da sein können. Zuschauen, wie er regelrecht ins Unglück stürzte, war das einzige gewesen, was ich hatte tun können.

Das war mit Abstand der allerschlimmste Augenblick meines Lebens gewesen, der mich nun seit beinahe zwei Jahren immer noch in meinen Träumen verfolgte. Ich hatte inzwischen aufgehört zu zählen, wie viele Nächte ich durchgehend einfach nur geweint hatte oder ich schweissgebadet und schreiend aufgewacht war. Es waren mittlerweile einfach zu viele. Aber ich hatte nun seit einigen Wochen eine ziemlich gute Taktik gefunden, die mich zumindest manchmal für ein paar Stunden Schlaf finden liess. Ich ging einfach nächtelang gar nicht schlafen und vertrieb mir die Zeit mit lesen, Netflix oder eben draussen mit meinen Freunden, damit ich irgendwann so komplett übermüdet war, dass ich einfach einschlief und selbst für grauenhafte Träume zu müde war.

Meistens schlief ich dann tagsüber, was am Wochenende eigentlich auch kein Problem war. Aber durch die Woche war es natürlich ziemlich beschissen, wenn mich meine Mutter einfach gnadenlos um sechs aus dem Bett zerrte, obwohl ich meistens erst um fünf eingeschlafen war.

Das war einer von vielen Gründen, warum ich Schule hasste und meine Noten ziemlich mittelmässig waren. Meistens pennte ich halbwegs im Unterricht und wenn ich mal wach war, vertrieb ich mir die Zeit damit, mit Luca das nächste Wochenende zu planen oder heimlich Netflix unter dem Tisch zu schauen. Ich gab mir zwar immer Mühe, den Stoff, den ich verpennt hatte, in der Nacht nachzuholen, da ich ja sowieso nie schlafen konnte, aber wenn wir dann am nächsten Morgen eine Prüfung hatten, war ich immer so komplett übermüdet, dass ich mich sowieso nicht konzentrieren konnte und das nächtliche Lernen eigentlich für die Katz gewesen war.

Escape... Schatten der VergangenheitWhere stories live. Discover now