1. Kapitel

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Carlos

Gebannt lehnte ich mich nach vorne, um besser durch die Windschutzscheibe hindurchgucken zu können. Ich konnte zwar nicht wirklich viel erkennen, da es stockdunkel war und der Wagen in viel zu hohem Tempo über die Strasse bretterte, aber es erhöhte das kribbelnde Gefühl in meinem Bauch und meinen Adrenalinspiegel nur noch mehr, als ich die Lichter der Stadt draussen vorbeifliegen sah. 

Genau diese Momente waren die einzigen in meinem Leben, in denen ich mich einigermassen frei und unbeschwert fühlte. Nichts war mehr wichtig und alle Probleme und Sorgen rückten zumindest für eine Weile in den Hintergrund. Mir war zwar mehr als sternenklar, dass das, was ich hier tat, saugefährlich war, aber ich konnte es einfach nicht lassen. Das unbeschreibliche Gefühl war es einfach wert, es zu tun.

Für eine Weile fühlte ich mich wie damals vor fast zwei Jahren, als ich neben meinem Bruder Enrique auf dem Beifahrersitz gesessen hatte und wir zusammen durch die Strassen gebrettert waren. Er hatte sich riesig gefreut, als er endlich 18 geworden war und seinen Führerschein bekommen hatte. Beinahe auf jede Tour hatte er mich mitgenommen, selbst als er mit seinen Kumpels einen Trip nach Wales unternommen hatte. Nur ungerne erinnerte ich mich an diese Zeiten zurück, denn dadurch wurde mir jedes Mal aufs Neue bewusst, was ich verloren hatte. Enrique war viel mehr als nur mein fünf Jahre älterer Bruder gewesen. Er war gleichzeitig mein bester Freund, dem ich alles erzählt hatte, mein Vorbild und meine Mutter und mein Vater in einem. Er hatte immer auf mich aufgepasst, wenn meine Eltern keine Zeit gehabt hatten und hatte mir mehr beigebracht, als ich wahrscheinlich jemals in der Schule lernen würde.

Aber jetzt war er nicht mehr da und würde auch nie wieder zurückkommen. Wenn ich nur schon daran dachte, wurde mir jedes Mal aufs Neue schlecht oder ich brach in Tränen aus. Deshalb versuchte ich einfach so gut es ging, alles, was passiert war, zu verdrängen und mich nur noch auf dieses eine Gefühl zu konzentrieren. Obwohl ich nicht mit ihm, sondern mit drei Typen, die ich eigentlich gar nicht kannte und mit meinem besten Freund Luca im Auto sass, gelang es mir gut, mir einzubilden, dass es Enrique war, der den Wagen mit quietschenden Reifen und heulendem Motor durch die Strassen schlängelte. Der Typ hinter dem Steuer beherrschte den Wagen zwar ziemlich gut, aber ich wusste genau, dass er getrunken hatte. Obwohl ich selber mehr Alkohol in mich reingeschüttet hatte, als wahrscheinlich gut für mich war, spürte ich, wie der Wagen Schlangenlinien fuhr und manchmal beinahe ausscherte. Zum Glück war es beinahe halb vier Uhr morgens und die Stadt wirkte wie ausgestorben. Nur um diese Uhrzeit konnte man sowas tun, wenn man freie Bahn haben und nicht von der Polizei in die Mangel genommen werden wollte.

Wenn meine Eltern gewusst hätten, dass ich mit irgendwelchen betrunkenen Typen durch die Stadt raste, wären sie komplett ausgerastet. Vor allem mein Vater hätte das alles andere als witzig gefunden, aber das war mir ehrlich gesagt ziemlich egal. Die drei Typen waren ganz in Ordnung und mir und Luca würde schon nichts passieren.

Wir hatten sie um Mitternacht in der Innenstadt einfach angequatscht, als sie mit ihrem protzigen, aufgetunten Wagen vor einem McDonald's angehalten hatten. Es war mittlerweile sowas wie ein Ritual geworden, uns jede Freitag- und Samstagnacht irgendwelche protzigen Bonzen zu suchen, die uns eine Runde mit ihren geleasten Wagen durch die Stadt chauffierten. Vor allem beim Bahnhof oder eben bei McDonald's hatte man am Wochenende gute Chancen, auf solche Leute zu treffen.

Diese hier waren irgendwelche abgekackten Studenten, die schon um Mitternacht so besoffen gewesen waren, dass sie nicht mehr gecheckt hatten, dass sie zwei Minderjährige, die sie nicht mal kannten, einfach in ihren Wagen reingelassen hatten. Wir hatten sie einfach angequatscht und gefragt, ob sie uns eine Runde mitnahmen. Und nun sassen wir seit beinahe dreieinhalb Stunden in diesem Wagen, tranken den Alkohol, den sie darin gelagert hatten und liessen uns von ihnen rumchauffieren. Ich wusste zwar noch immer nicht, wie die drei eigentlich hiessen, aber ich hatte mittlerweile erfahren, dass der, der neben mir auf dem Rücksitz hockte, eine eigene Hanfplantage besass, Jura studierte und dass er zu Hause einen Mercedes-AMG C63 besass, den ihm sein Vater zum 18. Geburtstag geschenkt hatte. Es war schon krass, wie redselig gewisse Leute wurden, wenn sie betrunken waren. Aber es war echt praktisch, sowas zu erfahren, denn vielleicht konnte mir der Typ ja in Zukunft noch nützlich werden. Falls ich morgen wieder eine Ablenkungstour brauchte, wäre ein Mercedes-AMG schon mal ganz praktisch. Dann brauchten Luca und ich uns nicht wieder vor den Bahnhof oder den McDonald's zu stellen und uns protzige Typen zu angeln.

Escape... Schatten der VergangenheitWhere stories live. Discover now